Heimat Bote Nr. 35


Die Magd


Am Vormittag hatte die Magd die Kündigung erhalten, in der großen Stube des Bauern, und die Bäuerin hatte auf der Ofenbank gesessen und nur ein einziges Mal ihre harten Augen gegen sie aufgehoben. Nach dem Gesetz dürfe sie bis zum Altjahrsabend bleiben, hatte der Bauer gemeint, aber es stehe ihr auch frei, am gleichen Abend noch zu gehen. Und in ihren Umständen sei wohl nicht viel Hilfe von ihrer Hände Arbeit zu erwarten.
Die Magd hatte noch eine Weile dagestanden, die Augen durch das Fenster auf die Felder gerichtet, über die der harte Schnee trieb. Es kam ihr wohl vieles in den Sinn, was sie hätte sagen können. Von vielen Ernten, die sie mit eingebracht, von vielen Eimern Milch, die sie getragen, von vielen Kälbern, die sie aufgezogen hatte. Und daß auf einem großen Hof zwei Hände mehr seien als eben nur Hände, wenn sie selbstlos für das Ganze geschafft hätten. Und daß eine Menschenhand nicht immer mit Geld allein abzugelten sei. Und vielleicht auch hätte sie sagen können, daß der jüngste Sohn des Hofes eigentlich neben ihr stehen müßte, vor dem schweren Eichentisch, hinter dem soeben ein hartes Gericht gehalten wurde. Aber dann hatte sie doch geschwiegen. Nur eine finstere Falte hatte sich langsam und tief zwischen ihre Augen gegraben, und der von den Feldern rückkehrende Blick war einmal über den Bauern und die Bäuerin gegangen. Ein Blick, dem ausgewichen und der nicht erwidert wurde. Und dann, schon an der Tür, hatte sie achtlos gesagt, daß sie am gleichen Abend noch gehen würde.
Nun, in der Dämmerung, als sie die letzte Kuh gemolken hatte, wäre es Zeit gewesen, zu gehen. Aber sie blieb noch sitzen, die Stirn an die Flanke des Tieres gelehnt, eingehüllt in die Geborgenheit des Stalles, hinter dessen Wänden das Dunkel war und die Verstoßung. Vom Futterboden wurde Heu heruntergeworfen, und sie wartete noch, bis die Fußtritte die Leiter heruntergekommen waren. Es könnte wohl ein Wunder geschehen am Ersten Advent. Ein Licht könnte sich aufheben in der Finsternis, eine Kammer könnte ihr zubereitet werden auf dem großen Hof, wo selbst der Hund eine Hütte hatte, vor die man eine Schüssel mit Nahrung stellte. «Lieber Gott», betete sie an dem Leib des Tieres, «laß auch für mich ein Wunder kommen, deine arme und sündige Magd... »
Aber die Schritte gingen zur Stalltür, und eine verlegene Stimme sagte: «Du mußt einsehen, daß ich nicht anders kann . . . »
Sie antwortete nicht, und dann waren die Schritte schon auf dem Hofplatz, und eine ferne Tür schlug zu. Es war ein harter Klang, unbeabsichtigt vielleicht, denn der Wind ging schwer über die dunkelnden Felder, und so kam es, daß auch sein Echo hart war im Herzen der Magd und daß auch dort eine Tür zufiel. Zwar blieb sie noch eine Weile sitzen, weil das Tier an ihrer Stirn voll Ruhe und Geduld war und weil es ihr nicht leicht war, von den Tieren zu scheiden, von denen viele unter ihren Händen groß geworden waren. Aber dann stand sie doch einmal auf, trug den Eimer zur Seite und ging geradewegs in ihre Kammer hinauf, wo sie sich umkleidete. Das Bündel mit Ihrem geringen Besitz ließ sie zu Füßen des Lagers stehen. Sie würde es nun wohl nicht mehr brauchen.
Der Weg zum Pfarrer war wohl eine Meile weit, und vieles ließ sich auf ihm bedenken. Er führte über hügelige Felder, mit verkrüppelten Bäumen auf den kahlen Höhen, und dann am Fluß entlang, der hinter den Schilfwänden murrte, und dann durch den Fichtenwald, in dem es still war wie in der Kirche. Ein guter Weg, oft gegangen zur Sommerszeit, wenn der Kuckuck über die Felder rief und die Roggenhalme sich über denen schlossen, die allein sein wollten unter den Sternen mit der Heimlichkeit ihrer verbotenen Liebe. Aber nun ein harter Weg unter dem treibenden Schnee, weitab von dem Licht der Höfe zur Rechten und zur Linken.
Sie kannte den Pfarrer nicht, und sie ging zu ihm, weil sie ihn nicht kannte. Sie wußte nur, daß er noch jung war und mit einer adligen Dame verheiratet, daß viel festliches Leben in seinem Haus war, Musik und geistliche Spiele, und daß die Landschaft leisen Anstoß nahm an seiner fröhlichen Weltlichkeit. So hatte sie wohl gedacht, daß ein milder Richter hinter dieser Freude wohnen müsse statt eines strengen Mahners mit weißen Haaren.
Sie sah die vielen Fenster erhellt in dem breiten Haus, sah Schatten hinter den Vorhängen und hörte dann viele Instrumente feierlich zusammenklingen zu einer sanften Anbetung, die langsam stieg und sank. Sie saß auf der alten Steintreppe, den Kopf an das Holz der Tür gelehnt, und hörte zu. Es war, als erbebe das Holz unter den Klängen, die das Haus erfüllten, gleich dem Leib einer Geige, und als lehne sie mit Ihrem Ohr an der Tür eines himmlischen Saales, in dem der Trost zubereitet werde für das dunkle Erdenland mit seiner vielfachen Not.
So war ihre Hand ganz ruhig, als sie den Klopfer der Tür bewegte, der ein altes Wappen trug, und auch ihre Stimme zitterte nicht, als sie das Mädchen bat, den Pfarrer zu rufen. Nun waren die Gäste gerade dabei, sich in dem Saal zu ordnen, der eine kleine Bühne hatte, auf der die drei Kinder des Pfarrers mit einigen jungen Helfern ein Krippenspiel zur Aufführung bringen wollten, und es war natürlich, daß der Pfarrer ungehalten war über die unvermutete Störung und sich zuerst verleugnen lassen wollte. Aber dann schämte er sich ein wenig, weil die Tür eines Pfarrhauses doch nicht verschlossen sein durfte, ordnete an, daß man ohne ihn beginnen sollte, da das Spiel ja ohnehin bekannt sei, und versprach, nach kurzer Zeit wieder da zu sein. Doch öffnete und schloß er die Tür seines Amtszimmers härter als nötig gewesen wäre, und als er beim ersten Blick den Zustand der Magd erkannte, schoß der Zorn in seine Augen, und er ließ sie mit harten Worten an, ob sie vielleicht nach ihrem verspielten Myrtenkranz zu ihm komme.
Die Magd war aufgestanden und sah ihm ohne Angst in die Augen, wie ein Mensch, der das Notwendige zu erwarten bereit ist, aber dann konnte sie nicht hindern, daß ihre Augen einmal nach dem Kruzifix gingen, das über dem Schreibtisch hing, und dann schweigend zu dem Gesicht des Pfarrers wiederkehrten. Sie habe den Herrn Pfarrer nur bitten wollen, sagte sie dann mit ihrer dunklen und bescheidenen Stimme, daß er das Ungeborene in ihrem Leib taufe, weil es wahrscheinlich an Zeit und Gelegenheit mangeln werde, das zwischen Geburt und Tod zu tun.
Sie hielt dem Blick des Pfarrers stand, der sie nun ohne Begreifen umfaßte, und fügte nur hinzu, daß eine Nottaufe doch statthaft sei, da ein ungetauftes Leben doch der ewigen Seligkeit verlustig gehe.
Weshalb sie denn nicht warten wolle, fragte der Pfarrer endlich, bis das Kind geboren sei? Das Kind werde niemals geboren werden, erwiderte die Magd ganz still.
Nun begriff der Pfarrer endlich, was hier geschehen sollte, und da er noch jung war und ohne Anfechtungen frühzeitig in ein geachtetes und gesichertes Leben gekommen war, so war es natürlich, daß er von neuem zornig wurde über die Selbstverständlichkeit, mit der hier eine Todsünde vor ihn hingelegt wurde: «Du sündiger Mensch», sagte er, «weißt du denn, was du sprichst und verlangst?»
Aber die Magd, als stehe sie in einer andern Welt, wo die menschliche Sprache nicht gelte, wiederholte nur mit den gleichen Worten ihre Bitte. Und als der Pfarrer «Nein!» sagte, «Nein und nochmals Nein!», wandte sie sich still zur Tür, öffnete sie und trat mit gebeugten Schultern auf den Gang hinaus.
Nun öffnete sich im gleichen Augenblick lautlos die gegenüberliegende Tür, und die Frau des Pfarrers trat heimlich aus dem verdunkelten Saal, um nach ihrem Mann zu sehen. In dem Ausschnitt der Tür erschien nun das dämmernde Dunkel des großen Raumes, die Umrisse vieler Menschen, die mit dem Rücken zur Tür saßen, und auf dem erhöhten und sanft beleuchteten Hintergrund die kindlich aufgebaute Hütte unter den Kulissen eines beschneiten Waldes. Auf der Schwelle saß ein alter Mann mit einem Küchenbeil auf den Knien, klein und dürftig, da man ein Kind dazu verkleidet hatte. Im Innern aber, neben dem erhöhten Herd, hielt die Jungfrau das Kind in den Armen und wiegte es leise hin und her, indes ein roter Stern über dem Dach der Hütte stand und drei kleine Wanderer von der Seite her alles betrachteten, jeder mit einem Licht in der Hand, Watte statt Schnee auf den Kindermänteln. Und als nun die kleine Saalorgel mit hohen und zitternden Flöten in das Schweigen fiel, hoben die Wanderer ihr Licht über sich, und ihre zarten und schüchternen Stimmen vereinigten sich zu dem Gang einer stillen Melodie, unter der doch der ganze Saal zu erheben schien:

Wir gehn durchs dunkle Erdenland,
Wir tragen ein Licht in unserer Hand.
Wir suchen die Hütte, im verschneiten Wald,
Wir suchen das Kind, heißt Friedebald.

Die Magd, zuerst nur angehalten von dem unvermuteten Bild in der geöffneten Tür, stand nun in völliger Erstarrung, dem beglänzten Schauspiel hingegeben. Aber als die Stimmen schwiegen und die Orgel ein kleines Zwischenspiel vor der zweiten Strophe anhob, begann sie wie in einem Zauber einen Fuß vor den andern zu setzen, zuerst über die Schwelle, nicht achtend der abwehrenden Hand der Pfarrersfrau, und dann an der Seitenwand des Saales entlang, immer näher zu dem Wunder der Hütte und der Menschwerdung, die dort in kindlicher Weise geschah. Ihr Kopftuch war auf die Schultern geglitten, unter dem schneenassen Haar leuchtete ihr schmerzlich erschöpftes Gesicht. Die Gäste, zuerst im Zweifel, ob hier ein Geschehen des Spiels oder des Lebens vorliege, erkannten an dem plötzlich sich verwirrenden und dann abbrechenden Gesang der Kinder die Wahrheit, erhoben sich halb von ihren Sitzen und sahen nun, wie die Magd an den Stufen der Bühne anhielt, niederkniete, die gefalteten Hände gegen die Tür der Hütte hob und dann ihre Stirn auf die Bretter legte, wo sie lange und regungslos verharrte.
Es war sehr still in dem großen Raum, so still, daß das Knistern der Kerzen zu vernehmen war, unter denen die drei Wanderer in Verwirrung auf die Kniende starrten. Und erst als der Pfarrer, da doch nun nach seiner Meinung etwas geschehen mußte, von der Schwelle her leise auf die Bühne zuzugehen begann, stand die Magd langsam auf, wandte ihr verwandeltes Antlitz ihm entgegen, sah dabei nicht seine etwas hilflos ausgestreckte Hand und sagte laut und für alle vernehmlich, daß sie Trost und Demut empfangen habe von den Kindern, die immer wüßten, wo ein Licht am Abend leuchtet.
Und damit ging sie still und von niemand gehalten aus dem Saal, und es war vielen zumute, als habe etwas Großes sich hier vollzogen, obwohl niemand außer dem Pfarrer wußte, worum sie gebeten und was sie empfangen hatte.

Ernst Wiechert


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Neujahrsgebet
des Pfarrers von St Lamberti zu Münster im Jahr 1889


Herr, setze dem Überfluß Grenzen,
und laß die Grenzen überflüssig werden.
Lasse die Leute kein falsches Geld machen,
aber auch das Geld keine falschen Leute.
Nimm den Ehefrauen das letzte Wort.
und erinnere die Ehemänner an ihr erstes.
Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde
Bessere solche Beamte, Geschäfts und Arbeitsleute,
die wohl tätig sind, aber nicht wohltätig sind
Gib den Regierenden ein besseres Deutsch
und den Deutschen eine bessere Regierung.
Herr, sorge dafür, daß wir alle in den Himmel kommen
aber nicht sofort.


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Die Unterwerfung der Samländer

Als die Kreuzfahrer nach ihrer Ankunft in Preußen schon so weit gekommen waren, dass sie das feste Schloß Balga erbaut hatten, haben die benachbarten heidnischen Samländer, um zu sehen, was sie an solchen Nachbarn haben, einen von ihren Ältesten nach Balga zu den Deutschen Brüdern geschickt, welcher unter dem Schein eines Gesandten sollte auf deren Tun und Treiben und Sitten genau Achtung geben. Die Ordensbrüder haben diesen Gesandten auch freundlich empfangen und ihn ihre Eßstuben, Schlafkammern und Küche sehen lassen. Da dieser nun meinte, alles erkundet zu haben, was ihm von seinen Landsleuten aufgetragen war, kehrte er wieder nach Hause zurück und sagte zu seinen Samländern: "Die Deutschen Brüder haben etwas im Gebrauch, das uns den Hals brechen wird. Sie stehen alle Nacht aus ihrem Bett auf und kommen in ihrem Bethaus zusammen, darin sie ihrem Gott Ehre erweisen, welches wir nicht tun. Sie essen auch Gras (er hatte sie Salat essen sehen), wie das unvernünftige Vieh. Wer könnte ihnen widerstehen, die in den Wildnissen ohne Mühe ihre Speise finden können." Als solches die Samländer hörten, haben sie beschlossen, sich freiwillig dem Orden zu unterwerfen.




Die Bekehrung der Samländer

Den Göttern der alten Preußen waren alle Tiere verhaßt, welche eine weiße Farbe hatten, daher hielten, wie es auch jetzt noch in manchen Gegenden Preußens der Brauch ist, die alten Preußen auf ihren Höfen kein weißes Vieh. Nun trug es sich zu, daß, nachdem der Deutsche Orden sich das Samland unterworfen hatte, dort ein Vogt war, der Thammin von Gersleben hieß. Der war gewohnt, einen weißen Gaul zu reiten. Eines Tages ritt er nun nach Galt, wo der preußische Fürst Dorgo wohnte, mit dem er große Freundschaft hielt, und den er besuchen wollte. Er kam dort gegen Abend an und blieb die Nacht zu Gast. Dorgo geriet zwar in Sorge wegen des weißen Pferdes, allein er ließ sich nichts davon merken. Am anderen Morgen jedoch wurde der weiße Gaul des Vogts tot im Stall gefunden. Da sprach Dorgo zum Herrn Vogt: "Der Unfall tut mir sehr leid, denn du bist zu mir in aller Freundschaft gekommen, mein lieber Gast; darum nimm meinen besten Gaul für den deinigen! Ich bitte auch, daß du deinen Freund oft wollest besuchen, aber daß du kein weißes Pferd mitbringest, denn meine Götter lassen es hier nicht lebendig bleiben.«
Nach einiger Zeit kam der Vogt wieder zum Dorgo, und ob aus Vergessenheit oder mit festem Fleiß, wiederum auf einem weißen Pferd. Auch dieses wurde am andern Morgen tot im Stall gefunden. Dorgo beklagte den Unfall wiederum sehr, der Vogt aber erwiderte ihm: »Ich sage dir wenn es zum dritten Mal geschieht, werde ich an deine Götter glauben.
Dem entgegnete Dorgo: "Und ich verspreche dir, wenn du zum dritten Mal ein weißes Pferd zu mir bringst, und meine Götter lassen es am Leben, so will ich an deinen Gott und Jesum Christum glauben und mich taufen lassen!"
Als nun dreizehn Wochen vergangen waren, reitet der Vogt wiederum auf einem weißen Roß zum Dorgo. Er hatte aber seinen Dienern befohlen, den Sattel nicht von dem Gaul zu nehmen; an den Sattel hatte er ein Kreuz gehängt. Wie nun in der Nacht Herren und Knechte zur Ruhe gegangen waren, da erhob sich im Stall ein so großes Gerumpel und Getümmel, dass alle davon erwachten, und es war nicht anders, als wenn das ganze Schloß über den Haufen geworfen werden sollte. Wie man aber am andern Morgen aufstand, da war das weiße Pferd ganz frisch und gesund. Nun zeigte der Vogt dem Dorgo das Kreuz, welches am Sattel hing, und Dorgo glaubte an Christum von Stund an, und er ließ sich taufen mit all seinem Volk. So sind die Samländer Christen geworden.

Aus Ostpreussische Sagen


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