Heimat Bote Nr. 35

Alle (drei) Jahre wieder



1994 und 1997 waren wir schon in Nordostpreußen. Man sollte es nicht glauben, es waren tatsächlich schon wieder drei lange Jahre ins Land gezogen. Nu wur dat ober wedder Tid, wie musste doch mol wedder kikke fohre.
Nun, gefahren sind wir nicht. Diesmal sollte alles schneller gehen. Also wurde beim OstReiseService ein Flug nach Rauschen gebucht Am 29.07. ging es dann los. Zuerst mit dem Auto bis Hannover. Rein ins Parkhaus und weiter Richtung Abflughalle. Planmäßiger Abflug 14.30 Uhr. Um 18.45 Uhr hob unser Jet dann tatsächlich ab. Der Flug dauert nur eine Stunde. In Powunden gelandet, Uhr um eine Stunde vorstellen. Die Abfertigung klappte gut, und so kamen wir, fer Mannkes un dre Frukes, gegen 22.00 Uhr in unserem Hotel Rauschen 1 an. Der Empfang war freundlich, und es gab noch ein warmes Abendessen. Bis spät nach Mitternacht wurde noch erzählt. Der Ostpreuße ist ja von Natur aus nicht neugierig, aber er möchte doch stets wissen, mit wem er es zu tun hat.
Von unserer Reiseleiterin vor Ort war auch am Sonntag noch nichts zu sehen. Erst am Montag bekamen wir sie zu Gesicht. Ich glaube, sie war ein wenig enttäuscht; denn keiner wollte ihre Hilfe so recht in Anspruch nehmen. Jeder machte sich vor Ort seinen eigenen Urlaubsplan. Unserem Freund Alexander aus Großheidekrug hatte ich schriftlich mitgeteilt, wann wir kommen und wo wir wohnen. Sein jüngerer Sohn Juri und er wollten uns schon am Flughafen in Powunden begrüßen, aber wegen der langen Verspätung hat das nicht geklappt. So kam es dann, daß wir am Sonntag auf der Straße in Rauschen angesprochen wurden: "Seid ihr Zibners?"
Der Fragesteller hinter der Sonnenbrille entpuppte sich als Alexander. Die Freude war riesengroß. Wir umarmten uns herzlich. Wir haben uns immer nur geschrieben, aber es war mir, als würden sich alte Freunde nach langer Zeit wiedersehen. Nun lernten Gisela und ich auch seine Frau Valentina kennen.
Wir wollten die beiden dann zum Mittagessen einladen. Alexander bestand aber darauf, daß er dafür zuständig sei. In einem Lokal wurde dann ausgiebig gespeist, Wodka durfte natürlich auch nicht fehlen.
Ein Trinkspruch, ein Schlückchen Wodka, dazu ein Stück Schwarzbrot unter der Nase reiben und tief einatmen. Das mit dem Schlückchen hatte ich schnell drauf, aber an der "Schwarzbrottechnik" muß ich noch feilen. Wir, die Zibners und die Romanows, verbrachten gemeinsam den Rest des schönen Tages im Seebad Rauschen und verabredeten uns abschließend am Mittwoch in Großheidekrug. Am Montag nahmen wir dann doch noch an der angebotenen Stadtrundfahrt in Königsberg teil. Wollten doch mal sehen, ob sich was verändert hat.
Wenn man dem Gejammer unserer Reiseleiterin Glauben schenken will, so wird alles immer schlechter. Sie gab sich als Lehrerin aus. Hoffentlich gibt sie ihren Pessimismus nicht an ihre Schüler weiter. Doch als wir dann dem jungen Mädchen im kleinen Museum im Friedländer Tor zuhörten, keimte wieder Hoffnung auf. Die jungen russischen Menschen haben hier Relikte aus deutscher Zeit ausgestellt, die sie selber entweder ausgegraben oder gesammelt haben, wie z.B. alte Straßenschilder, Reklametafeln. (Aus gutem Grund ist Juno rund, Bierflaschen der alten Königsberger Brauereien und vieles mehr. So hat man überall den Eindruck, daß es die Jüngeren sind, die das Heft in die Hand nehmen. Die Alten scheinen mit der wirtschaftlichen Entwicklung große Schwierigkeiten zu haben. Mit dem Dom geht es stetig bergan. Wir sahen auch den kleinen Dombaumeister, der geschäftig herumlief. Der vordere Bereich ist schon wie ein kleines Museum hergerichtet. Und immer wieder Immanuel Kant.
Man kann fast annehmen, dass die Russen ihn für sich vereinnahmen wollen, so wie die Polen es mit Nikolaus Kopernikus getan haben.
Das neue ev. Gemeindezentrum sticht baulich richtig hervor. Nun weiß ich auch, warum für die Sanierung unserer kleinen Kirche in BrunsbüttelOrt das Geld so knapp ist. Um die Kirche herum viele exklusive Häuser.
In mir kam der Verdacht auf dass der liebe Gott den Reichen doch wohl näher ist.
Am Dienstag gingen Gisela und ich am Strand entlang in Richtung Georgenswalde. Der Ort machte einen gepflegten Eindruck auf uns. Nachmittags ging es dann noch mit dem Taxi nach Palmnicken in der Hoffnung, am Strand ein paar Klunkerchen Bernstein zu finden. Die geringe Ausbeute ist dann auch noch im Ort geblieben; denn bevor Gisela das Taxi wieder bestieg, zog sie noch ihre Jacke aus. Und dabei sind die paar gefundenen Steinchen aus der Tasche gefallen. Schade, aber groß war der Verlust wirklich nicht.

Nach Großheidekrug

Mittwoch war es dann endlich so weit. Auf zur Fahrt in den Geburtsort nach Großheidekrug. Alexander wollte uns abholen. Selber hat er kein Auto, und so kam er mit seinem Schwager Lew, stolzer Besitzer eines VWGolf. Die Fahrt ging quer durchs Land Richtung Germau. Hier besuchten wir, wie bereits 97, abermals den Friedhof. Der Name meines Vaters, Max Zibner, stand aber immer noch nicht auf einer der Tafeln. Auf der weiteren Fahrt ging es an verfallenen Kolchosen vorbei. Alles "Perestroika", meinten Alexander und Lew dann immer. Wir lernten noch den Schwiegervater von Lews Sohn kennen. Er machte sich auf dem großen Grundstück seines Schwiegersohnes nützlich. Hier steht ein wunderschönes Haus kurz vor der Vollendung.. Das Nebengebäude war mit Werkstatt, Sauna (Fliesen nur vom Besten) und einer kleinen Dachwohnung ausgestattet. Hier saßen wir zusammen und unterhielten uns bei einer Tasse Kaffee. Zum Abschied erhielt Gisela noch einen Strauß Blumen aus dem gut bestellten Garten. Weiter ging es über Fischhausen Richtung Zimmerbude.
Hier noch ein kurzer Besuch bei Lews Vater, der nach dem Kriegsende zuerst in der Schirrmacherwohnung gelebt hat. Wir wurden hereingebeten. Auch hier wieder ein sehr freundlicher Empfang. Lews Frau lernten wir auch kennen. Sie arbeitet in einem der vielen kleinen Kioske der Stadt. Dann fuhren wir zum Hafen. Das Haff lag im Sonnenschein vor uns. Auf dem gegenüberliegenden Damm fischten Jugendliche. Alles wirkte sehr friedlich. Von geschäftiger Arbeit keine Spur. Doch langsam besorgte Blicke auf die Uhr, Valentina wartet.
Also auf nach Großheidekrug.. Ja, Valentina wartete schon. Wir wurden ins Haus gebeten. Zum ersten Mal nach 55 Jahren betrat ich das Haus, in dem ich geboren wurde. Was werde ich wohl empfinden?
Mein Wunsch, das Innere des Hauses kennenzulernen, hatte sich erfüllt. Darüber habe ich mich sehr gefreut, aber innerlich war ich ganz ruhig. Wie sollten denn auch große Gefühle hochkommen, ich konnte mich ja an fast nichts erinnern. Wo war der große Kachelofen, von dem Mutter immer gesprochen hatte, wo der große Stall mit der Waschküche, in der man im Sommer immer gelebt hatte? Wo die vielen Kirschbäume, der weiße Holzzaun, der große Boden? Das gab es alles nicht mehr, von Mutters Beschreibungen ist nicht viel übrig geblieben. Der Kachelofen war einer Zentralheizung gewichen, im heute nur noch kleinen Stall gab es keine Waschküche mehr. Nur als Valentina mir einen Blick in den Keller gestattete, sie öffnete eine Fußbodenklappe in der Küche mit der Bemerkung "alt", berührte es mich eigentümlich. Hier sah ich Einmachgläser, und mir war, als stünden sie noch da, so wie vor 55 Jahren.
Die Wohnung besteht heute aus einem kleinen Giebelvorbau (der Eingang wurde also verlegt), einem Bad, einer Küche, sowie Wohn und Schlafzimmer. Das muß für vier Personen reichen. Alexander hat inzwischen auch eine Warmwasserversorgung eingebaut, worauf er selbstverständlich sehr stolz ist.
Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. Ein überreichlich gedeckter Tisch. Valentina, wer soll das alles essen und trinken? Die Zungen lösten sich schnell bei finnischem Wodka und Danziger Goldwasser. Dazwischen immer wieder Trinksprüche: auf die Freundschaft, für Frieden usw. Damit der Kopf klar bleibt, zwischendurch Grüner Tee. Alexander zeigte uns dann auch noch die Familienbilder. Die Zeit lief wie im Flug. Valentina führte uns in den Garten, in dem sogar Auberginen in einem Erdbeet gediehen. Tomaten, Kartoffeln, Gurken, Dill und einiges mehr waren angepflanzt. Ein böse dreinblickender Hund bewachte das Ganze. Dass er uns nicht kannte, hat er deutlich gezeigt. Wehe dem Dieb!
Wir machten dann noch einen kleinen Rundgang durchs Dorf. Ein Anlaufpunkt war auch das Denkmal. Eine leere Wodkaflasche stand auf den Stufen. Alexander ergriff sie und warf sie fort. Der Text auf dem Gedenkstein war schon schwer lesbar. Weiter ging es zum Haff. Es lag still und sonnig vor uns. Wir kamen am Haus von Frau Stern vorbei. Alexander meinte, sie wohne dort nicht mehr, sie sei zu ihrer Tochter nach Zimmerbude gezogen. Er hatte auch ohne unser Wissen Herrn Kenke angerufen. Doch seine Frau sagte, er wäre nicht zu Hause und auch in den nächsten Tagen nicht erreichbar. Ich hatte vor längerer Zeit auch schon mal versucht, ihn telefonisch. bzw. schriftlich zu erreichen. Herr Kenke war nie anwesend und hat auch brieflich nicht geantwortet. Das Haus Prusa stand einsam und verlassen da. Eine Herde Kühe wurde ins Dorf getrieben und auf die einzelnen Besitzer verteilt.
Langsam hieß es Abschied nehmen. Alexander und Valentina ließen es sich nicht nehmen, uns noch bis Rauschen zu begleiten. Wir gingen dann noch alle auf unsere Zimmer. Aus eine Plastiktüte zauberte Alexander noch eine Flasche Cognac und ein wenig Konfekt hervor. Wir mußten noch ein weiteres "kleines Getränk" auf unser gelungenes Treffen zu uns nehmen. Dann der unvermeidliche Abschied, doch wir wußten, wir werden uns wiedersehen.

Am Donnerstag fuhren wir in einem alten Mercedes mit unserem Taxifahrer Eugen in die Rominter Heide. Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Aber wer genau hinschaut, sieht auch die Armut überall. Viele Ruinen, auf denen sich Storchennester befinden, als sollten sie von dem Elend ablenken. Leute vom rechten Spektrum versuchen sich hier in Regermanisierung (Dietmar Munier). Es wurden Häuser für Rußlanddeutsche gebaut. Vierzig sollten es werden. Es steht nur ein Bruchteil davon. Wir besuchen eine Schreinerwerkstatt, in der Fenster, Türen, Hocker und andere Holzartikel hergestellt wurden. Der Leiter der Werkstatt, ein kauziger älterer Herr aus Deutschland, führte uns auch in die Wohnung einer russischen Familie. Hier legten wir automatisch den Rückwärtsgang ein. Was wir sahen? Schwamm drüber! Allerdings sah seine Wohnung auch nicht viel besser aus.

Trakehnen

Wir waren in der Heimat der Trakehner. In der Alten Apotheke von Trakehnen nahmen wir unser Mittagessen ein. Natürlich wollten wir die edlen Pferde in ihrer angestammten Heimat sehen. Also fuhr uns Eugen zu dem russischen Züchter Marosow? (über ihn berichtete das NDR Fernsehen in seinem Ostseereport). Der hatte hier auch mit deutscher Hilfe, beachtliche Arbeit geleistet. Doch was wir vorfanden, war erschütternd. Ein Feuer hatte die kleine Hazienda und die Stallungen vor wenigen Tagen vernichtet.
Der Züchter stand da wie ein Häufchen Elend. Wasser in den Augen, vielleicht auch Wodka. Zuerst familiäre Schwierigkeiten, dann kam der Alkohol hinzu, und zuletzt unvorsichtiger Umgang mit dem Feuer hatten zu dem Unglück geführt. Zum Glück befanden sich die Pferde alle auf der Koppel.. Er hoffe, dass die Pferde bald wieder ein Dach über den Kopf bekommen. Eine Versicherung gab es nicht, und Eugen fragte, ob wir nicht.... ich drückte dem Züchter 100 Rubel in die Hand. "Hoffentlich packt er es noch einmal", sagte Eugen versonnen. Er war allerdings sehr skeptisch. Nun muß er wahrscheinlich erst einmal zurück in den Container.
Wir fuhren weiter zum Wystiter See, bis zur Grenze, wo sich heute Russen und Litauer argwöhnisch beobachten. Dann traten wir wieder die Rückreise an. Die Flüsse Pregel, Angerapp und Pissa begleiteten uns ein Stück des Weges. Den damaligen Bewohnern passte der Name Pissa nicht, und sie beantragten eine Namensänderung. Der König schlug ihnen daraufhin den Namen "Urina" vor so ist es dann doch beim alten Namen geblieben. Wir unterhielten uns mit Eugen auch über die Zukunft des Landes. Er meinte, es gäbe drei Möglichkeiten: 1. Alles bleibt, wie es ist. 2. Das Land geht zu gleichen Teilen an Polen und Litauen. 3. Nordostpreußen wird ein eigenständiger baltischer Staat. Eugen, der übrigens ausgezeichnetes Deutsch sprach, war für Punkt 3. Die Deutschen könnten dann ja zurückkehren, man müsse nur aufpassen, daß sie den Russen nicht alles wegkaufen. Er war fest davon überzeugt, dass viele Deutsche in das Land kämen. Von einer Rückgabe des Landes an Deutschland hielt er nichts. Ein anstrengender, aber schöner Tag ging zu Ende.
Am Freitag ging es am Strand entlang in Richtung Neukuhren. Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Betonklötze versperrten uns den Weg am Strand. Also die Böschung hinauf, und wir standen vor einem großen Werksgelände. Der Zaun war an einigen Stellen schon verfallen. Wir gingen mit einem etwas mulmigen Gefühl quer übers Gelände. Als wir einige Arbeiter auf dem Dach eines Gebäudes sahen, bat ich um Entschuldigung und sagte, dass wir Touristen aus Deutschland seien. Freundlich sagte jemand "Guten Tag", und man zeigte uns den Weg, wie wir wieder auf die Strasse kommen. Hinten war alles offen, vorne saß ein Pförtner, der aber keine Notiz von uns nahm.
Wir gingen weiter zum Wasser. Ein wunderschöner Strand lag vor uns. Hier fragte ich nach dem Weg zum Bahnhof. Von dort ging es dann mit der Samlandbahn für umgerechnet 25 Pf. zurück nach Rauschen. Am Nachmittag noch ein erfrischendes Bad in der blauen Ostsee (es war von Vorteil, daß ich genügend Speck auf den Rippen habe).
Samstag war dann Rückreisetag.. Ein Bus brachte uns zum Flugplatz. Zwei Kilometer vor dem Flugplatz hupte der Busfahrer zwei Passanten an, die auf der rechten Straßenseite liefen. Doch die beiden wichen nicht aus, und er mußte warten, bis er überholen konnte. Mir fiel dazu die Anekdote ein, wie ein Königsberger Junge mit seinem Ziehwagen auf den Schienen vor der Straßenbahn herläuft. Auf die Frage des Strassenbahnfahrers, ob er denn nicht ausweichen könne, antwortet der Junge: "Ich kann, aber du nicht!"
Die beiden sturen Strassenbenutzer entpuppten sich als Alexander und sein Sohn Yuri. Sie wollten sich noch von uns verabschieden. Wir konnten es gar nicht glauben. Ein Abschiedsgetränk hatten die beiden "natürlich° auch dabei. Etwas abseits vom Flughafengebäude gab es nun noch einen Becher Wein, dazu Bitterschokolade. Als "kleines" Abschiedsgeschenk erhielten wir noch einen Kasten Pralinen, ein Stück Bernstein, eine Flasche "Alter Kenigsberger Kognak" und eine EinRubelmünze aus Silber mit dem Bildnis von Zar Alexander III. aus dem Jahr 1893.
Der Abflug sollte um 13.30 Uhr erfolgen. Um 16.30 hoben wir ab. Drei Stunden in der stickigen Halle verbracht. Alexander und Yuri haben so lange draußen gewartet, bis wir abgeflogen sind. Ich sehe die beiden noch winkend vor mir. Ostpreußen ade, aber nicht für immer. Wir kommen wieder!

Siegfried Zibner, Samlandstrasse 2, 25541 Brunsbüttel


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