Heimat Bote Nr. 35

Es begann 1944 im Herbst



Aus dem Osten flüchtete ich auf anderen Wegen und zu einem andern Zeitpunkt als meine Eltern. So entging ich zwar der Katastrophe um Großheidekrug, geriet aber zwischen die Fronten, wo sich Russen und Deutsche beschossen. Zwischen Granaten und Bomben, zwischen Trümmern und Feuer, die "StalinOrgel" in nächster Nähe, kämpfte ich mit den andern Leidensgenossen um mein Überleben. Noch Wochen nach dem Inferno konnte ich schlecht hören.

Und so ging es los:

Nach der Räumung von Bialystok war unsere Zivilverwaltung zur Abwicklung der Geschäfte nach Heiligenbeil in Ostpreußen verlegt worden. Die Angriffe auf diese Region vermehrten sich, und wir saßen fast jeden Abend im Luftschutzkeller. Ich wurde krank und erreichte meine Entlassung.
Meine Eltern schrieben, daß ich ja nicht nach Hause kommen solle; denn dort rückten die Russen immer näher. Nach Berlin zu meinem Schwiegervater wollte ich auch nicht. Dort gab es Tag für Tag massive Angriffe, und eine schwangere Schwiegertochter wollte er auch nicht unbedingt dort haben.
So fuhr ich erst einmal zu meinem Mann, der in Lauban/Schlesien stationiert war. Dann wurde es auch in Schlesien mulmig.

Ich packte meine Sachen und zog nach Urnenthal, einen kleinen Ort in der Nähe Posens mit etwa 300 Einwohnern, zum größten Teil Polen und Deutschpolen. Dort lebte meine Schwiegermutter, die leibliche, geschiedene Engler. Nach der Scheidung hatte sie sich mit einem Meiereimeister verheiratet, der die kleine Meierei in Urnenthal leitete. Als ich dort hinzog, war er schon lange Soldat. Die Nachricht von seinem Tod kam kurz nach meiner Ankunft. Die Meierei wurde von einem alten ausgedienten Meieristen geführt, einem strammen Anhänger des damaligen Regimes.
Die Küche der kleinen eineinhalb Zimmer Wohnung konnten wir uns immer gemütlich heizen, da meine Schwiegermutter neben Butter, Sahne und Käse auch Kohlen für den ,täglichen‘ Bedarf aus der Meierei ,beschaffte‘. An manchen Abenden saßen wir bei einer deutschpolnischen Familie mit überwiegend polnischen Menschen zusammen, und es ging rechtschaffen friedlich und freundlich zu.
Die gemütliche Zeit bei meiner Schwiegermutter, unsere gegenseitige große Zuneigung brachte Ruhe in mein Leben. Ich bereitete mich darauf vor, hier mein Kind zu bekommen und in Ruhe das Kriegsende abzuwarten. Der Winter war kalt, bis zu 25 Grad. Dagegen kam selbst unser kleiner überheizter Ofen nicht an.
Am 25. Januar kam meine Schwiegermutter abends aus der Meierei und erzählte so nebenbei, daß nunmehr der letzte Wagen mit den paar Deutschen auf dem Wege gen Westen wäre; denn die Russen rückten immer näher. Sie dächte aber nicht daran, auf die Flucht zu gehen. Die Polen würden uns schon nichts antun, und die Russen hätten bei ihrem Einmarsch auch nicht für alles Zeit. Außerdem wollte sie keineswegs mit einer hochschwangeren Frau bei dieser Kälte auf die Flucht gehen.
Ich war aber fest entschlossen, vor den Russen zu fliehen. Von meiner Angst angesteckt, rannte sie endlich davon. Eine Viertelstunde Zeit gab der Gespannführer uns, dann mußten wir die Wohnung verlassen haben.
Mutti, sehr schlank, zog ein Kleid über das andere, was ich wegen meines Zustandes nicht konnte. Schnell packten wir zwei Bündel mit einigen Sachen, die wir für notwendig hielten, in ausgebreitete Laken. Meine Schwiegermutter riß noch ihre beiden schönen Daunendecken an sich. Wir verzichteten darauf, die Wohnung zu verschließen.
Der Meiereiwagen war so vollgepackt mit Butter und Käse, daß wir kaum Platz fanden. Alles war zu Eisblöcken gefroren. Die Pferde konnten diese Last kaum schleppen. Aber der Meierist hatte den Auftrag, diese Produkte der Wehrmacht zuzuführen, und er wollte es auf jeden Fall auch schaffen. Die armen Pferde rutschten ob dieser großen Last ständig aus. Wenn sie es nicht mehr schafften, wurde ihnen eine Pause gegönnt. Dann begannen die verschwitzten überanstrengten Tiere zu frieren. Schließlich verweigerten sie sich; trotz grausamer Peitschenhiebe blieben sie stehen.
Auf meine Vorwürfe, daß er vor allem erst an die Menschen zu denken hätte, und die Produkte an die Flüchtenden verteilen sollte, bekam ich außer einem verächtlichen Blick keine Antwort. Außer meiner Schwiegermutter war nur noch eine junge Frau, eine Krankenhelferin, auf unserem Wagen geblieben. Sie versuchte sich ständig vorzustellen, was sie im Falle einer Frühgeburt mit mir anstellen konnte. Ich hatte ständig Anzeichen, die bei all der Aufregung eine Frühgeburt befürchten ließen. Auf eisglatter Straße bei 25 Grad Kälte auf einem offenen Wagen! Was sollte bloß aus mir und meinem Kind werden?

Eine Pause

Schließlich entschloß sich unser Wagenführer, bei der nächsten Ortschaft die Meiereiprodukte abzuliefern, um dann doch schneller voranzukommen. Wir hielten in der Nähe von ,Birnbaum‘ an einem kleinen Bauernhof an. Hier konnten auch die Pferde versorgt werden. Die Besitzer waren noch anwesend. Liebevoll nahm mich die Bäuerin, die meinen Zustand sogleich bemerkt hatte, mit in die Küche, setzte mich an den warmen Herd und gab mir ein Glas heiße Milch zu trinken. Ich kam aus der eisigen Kälte, und die heiße Milch verbrannte mir sofort sämtliche Schleimhäute im Mund. Es war schrecklich!!
Schließlich lief ich über den Hof zur Toilette. Als ich die Tür aufmachen wollte, wurde ich brutal zurück geschleudert; jemand sprang an mir vorbei und versetzte mir einen Schlag. Es war ein flüchtender Strafgefangener, der hier Unterschlupf gesucht hatte. Ich fürchtete um mein Kind, denn ich bekam leichte Blutungen.
Ich habe keinem Menschen etwas von diesem Erlebnis erzählt, hatte aber schon vorher gehört, daß Strafgefangene der Wehrmacht zugeführt werden sollten.
Einen Teil der Nacht verbrachten wir in der Küche bei der Bäuerin, machten uns aber schnell wieder auf den Weg, denn nach den Nachrichten der vorbeiziehenden Wehrmachtsangehörigen wußten wir, daß die russische Armee dicht hinter uns war.
Es war dunkel und kalt. Überall blieben Wagen in den Straßengräben liegen. Dick vermummte Frauen und Kinder zogen an uns vorbei, manche schleppten einen kleinen Handwagen hinter sich her. Gesprochen wurde kaum, geschrien und laut geweint auch nicht. Jedem stand die Verzweiflung im Gesicht geschrieben.
Unsere Pferde gaben mitten in einer Waldgegend auf. Alles zog an uns vorbei. Wir saßen wie die gefangenen Kaninchen in der dunklen Nacht auf diesem eiskalten Wagen und kamen keinen Schritt vorwärts. Diese nicht enden wollende Nacht machte mich vollkommen apathisch. Ich lag zusammengekauert in allerlei Zeug gehüllt auf dem offenen Wagen und starrte in den Sternenhimmel.
Endlich gegen Morgengrauen zogen die Pferde wieder langsam an. Plötzlich bekamen wir von links und rechts militärische Bewachung, Treckbegleiter dachten wir.
Gab es eine Pause, standen die Männer, und die Frauen saßen in den Gräben, um ihre Notdurft zu verrichten. Männer bildeten eine Sichtwand, man saß dahinter. In dieser Not habe ich nicht einmal daran gedacht, irgendeine Peinlichkeit zu empfinden.
Schließlich hielten die Männer einen großen PKW an, der mit Insassen in SA Uniform besetzt war, und verlangten, sie sollten mich wegen meines schwangeren Zustandes und einer eventuellen Frühgeburt mitnehmen. Alles was sie taten war, mich zu beschimpften."Schwanger! In dieser Zeit!" So unrecht hatten sie auch nicht.
Langsam, viel zu langsam für uns bewegte sich dieser Treck weiter. Plötzlich gab es Gerenne, Flüche, immer wieder: "Halt, stehenbleiben!" Dann wurde über unsere Köpfe hinweg geschossen. Die Kugeln pfiffen uns nur so um die Ohren. Ich hielt beide Arme um meinen Bauch geschlungen und dachte nur immer wieder: "Hier wird bestimmt alles zu Ende sein, keiner meiner Angehörigen wird je erfahren, wo ich geblieben bin." Wußte ich doch nichts von meinem Mann, nichts von meinen Eltern, Oma und Opa und Geschwistern, nichts über meine Heimat. Ich fühlte mich so ausgeliefert und allein, von meiner Schwiegermutter hörte ich nicht einen Mucks; ich hielt sie für tot. Aber sie lebte, Gottseidank.
Schließlich überbrachte uns jemand die Meldung, daß nicht die Russen geschossen hatten, sondern die deutschen Begleiter. Die Strafgefangenen hatten die Flucht ergriffen und zum Teil das Weite gesucht. Wie weit sie gekommen sind, weiß ich nicht.
Der Treck bewegte sich nur schleichend vorwärts. An den Straßenrändern versuchten einige Leute den weinenden Müttern ihre verstorbenen Säuglinge und Kleinkinder abzunehmen. Die Kinder konnten nicht einmal begraben werden, denn man kam mit den vorhandenen Geräten nicht in die tief gefrorene Erde hinein. Es war ein unvorstellbares Elend. Ich war so froh, daß ich mein Kind in meinem Bauch hatte, wenn es bitte, bitte nur nicht vorschnell kommen wollte! Dann wären wir sowieso verloren gewesen.
Mittlerweile ging es mir so schlecht, daß ich den Menschen in meiner Umgebung eine Last geworden war. Wenn die Pferde endgültig streikten, hätten sie auch zu Fuß weitergehen können. Dazu war ich nicht mehr in der Lage. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, mein Bauch war hart wie ein Stein, und niemand von ihnen wollte mit ansehen, wie ich auf der Straße verreckte. Sie brachten mich in einen leerstehenden Bahnhof. Alle Menschen waren offenbar geflüchtet, denn niemand war hier zu sehen. Dort legten sie mich in der Bahnhofshalle auf eine Bank und machten sich dann weiter auf die Flucht. "Es wird sich schon jemand finden, der einer so jungen hochschwangeren Frau ich war gerade 21 Jahre alt Hilfe leistet." Warum nicht wenigstens meine Schwiegermutter bei mir blieb, haben wir beide später nicht mehr verstanden.

Verlassen und gerettet

Ich werde diesen Platz auf der harten Bank in dem trostlosen eiskalten Bahnhof nie vergessen. Schnee und Matsch bedeckten den Boden. Daß hier vor kurzem noch Menschen gewesen waren, sah man an den aufgetauten Stiefelspuren. Ich lag auf der Bank und wartete darauf, daß die Russen mich finden würden.
Meine schönen Stiefelchen, für die mein Großvater seinen Schuhbezugsschein abgegeben hatte, wärmten nicht annähernd meine Füße. Ich trug eine Pelzmütze mit langen Samtbändern, die mein Vetter mir einmal aus Norwegen mitgebracht hatte und dazu einen weißen Muff. In dem Täschchen im Muff hatte ich meine Papiere. Mehr besaß ich nicht.
Jedes Zeitgefühl hatte ich verloren, ich weiß nicht, wie lange ich völlig apathisch auf dieser Bank lag. Die Tränen rannten, ohne daß ich es wollte. Auf einmal sah ich Hin und Hergerenne von Wehrmachtsstiefeln. "Die Russen?", dachte ich und rührte mich nicht. Schließlich hatte mich einer der Männer entdeckt. Es waren deutsche Soldaten. "Um Himmelswillen, wen haben wir denn da? Kind, was machen Sie hier, wer hat sie hier hergebracht?" Ich konnte nur einen Satz schluchzen: "Ich will nach Berlin!"
Der Soldat nahm mich liebevoll in seine Arme und sagte, wenn keiner nach Berlin käme, ich bestimmt, er würde dafür sorgen. In einem VW (Kübel) saßen fünf Soldaten. Als sie alle gut saßen, wurde ich zu ihnen hinein gereicht. Da lag ich nun quer über drei hilfsbereiten jungen Männern, einer wärmte mir die Füße, einer die Hände und einer trocknete meine Tränen. Wenn wir auch nicht schnell vorankamen, wir schafften es bis zur nächsten Stadt. Hier lieferten sie mich beim DRK ab. Was mag aus ihnen geworden sein?
Von dort wurde ich zu einer Familie gebracht, die noch gar nicht an Flucht gedacht hatte. Nach einem warmen Bad bekam ich ein sauberes, warmes Bett und von der jungen Frau saubere Unterwäsche. Vom DRK wurde mir zugesichert, sobald ein Platz in einem Zug frei sein würde wenn überhaupt einer fahren sollte, den Platz im Abteil für Mutter und Kind bekommen sollte. Zwei Tage blieb ich bei der Familie, die sich nun auch auf die Flucht vorbereitete, dann holte mich jemand vom DRK ab. Ich wurde in den Zug gesetzt. Er hatte nicht eine einzige heile Fensterscheibe. Es war eisig kalt. Aber er bewegte sich immer weiter in Richtung Westen und immer mehr von den russischen Truppen fort.
Man hatte mir vom DRK eine große warme Decke geschenkt, in die ich mich einwickeln konnte. Zwei junge Mädchen mit großen ängstlichen Augen saßen mir bibbernd gegenüber. Sie wußten beide nichts von ihren Familien. Immer wenn ich warm genug war, wickelte ich beide Mädchen zusammen in die Decke ein, und so ging es im Wechsel bis wir endlich kurz vor Berlin waren. Ich habe die beiden nie wiedergesehen.
Zunächst hatten wir keine Einfahrt in den Bahnhof. Die Stadt hatte gerade einen furchtbaren Angriff hinter sich und brannte lichterloh. Verzagt machte ich mich auf den Weg. Ich kannte Berlin doch kaum, wie aber sollte ich unter diesen rauchenden Trümmern und ständig herabstürzenden Mauern die Wohnung meines Schwiegervaters finden? Wo überhaupt sollte ich anfangen? Ich stolperte über Menschen, die nach ihren Angehörigen suchten, Menschen, die aus den Trümmern irgendwelche Habseligkeiten herausholten und fragte mich durch.
Daß noch alle nett und hilfsbereit sein konnten, und ich mich fragend und suchend durch halb Berlin auf den richtigen Weg machen konnte, grenzt an ein Wunder. "Lieber, lieber Gott", vielleicht habe ich es tausendmal gesagt, ,,laß mich bitte die Wohnung meines Schwiegervaters finden. Laß sie bitte heil sein." Ich war verstaubt und roch nach Asche und Feuer. "Nur noch diese Ecke, lieber Gott, dann weiß ich es, dann bin ich vielleicht so etwas wie zu Hause." Zwischen all den Trümmern ragten die Häuser heraus. Es war eine schöne Siedlung, die von der Post gebaut war. Ich stand vor der Tür und klingelte. Es war vielleicht neun Uhr morgens. Mein Schwiegervater öffnete. Sprachlos stand er vor mir: "Ich habe an alles mögliche gedacht, aber nicht, daß Du es sein könntest!"
Mein Schwiegervater lebte nach der Scheidung von seiner Frau mit einer anderen Frau zusammen, die er jedoch (er war katholisch) niemals geheiratet hatte. Sie litt entsetzlich darunter. Er hatte ihr zwar seinen Ehering angesteckt, und seine beiden Söhne mußten sie auch "Mama" nennen. Jedenfalls kam auch sie, nahm mich liebevoll auf, und ich war beinahe wie zu Hause. Doch das Schlimmste kam noch

Überleben in Trümmern

In Berlin war ich fremd. Zuerst mußte ich das Anmeldeamt suchen und meine Lebensmittelkarten anfordern. Anschließend bekam ich einen Bezugschein für ein Schwangerschaftskleid. Den Stoff habe ich mir gekauft, ihn aber liegenlassen bis die Schwangerschaft vorbei war. So konnte ich nachher gleich zwei Kleider für mich schneidern lassen. Aber meine für Schwangere erhöhte Lebensmittelkarte, die ich ja selbstverständlich in den Haushalt mit einbringen mußte, brachte mir nicht die geringsten Vorteile; ich mußte essen, was mir vorgestellt wurde, und das reichte niemals aus. Die Zuteilungen bestanden auch nur aus den Standartlebensmitteln, und die Rationen waren immer unzureichend.
Abend für Abend, ganz zu schweigen von mitten am Tage, gab es Fliegeralarm. Wir saßen dann verängstigt im Luftschutzkeller, und ich war heilfroh, daß ich mein Kind immer noch warm in meinem Bauch hatte.
Mein Schwiegervater, vom Ersten Weltkrieg her schwerbehindert, fuhr einen Selbstfahrer mit elektrischem Antrieb. Er konnte damit sogar noch eine andere Person mitnehmen. Das Gerät glich einem Motorrad mit drei Rädern. Damit ist er dann manchmal er war bei der Post am Schalter beschäftigt aufs Land hinaus gefahren und hat Tauschgeschäfte gemacht.
Die Kampfhandlungen wurden immer heftiger, und die Front rückte immer näher. Ein Ausweichen gab es für uns nicht mehr. Wo hätte ich auch hingehen sollen?

Meine Schwester weiß vom Rest der Familie

Eines Tages jedoch erschien, oh Wunder, meine Schwester Friedel. Meine Eltern waren mit ihr und den Kindern am 25.1.l945 aus der Heimat geflüchtet und wohnten in der Nähe von Lüneburg.
Sie hatte mich in Berlin vermutet, zumal wir das auch als WiederfindungsAdresse vereinbart hatten. Friedel kam, um mich abzuholen. Die Eltern hatten von den Kampfhandlungen um und vor Berlin erfahren und wollten mich bei sich haben. Das war insofern auch eine richtige Entscheidung, aber ich wollte keineswegs aus Berlin heraus. Immer habe ich gedacht, daß ich hier vielleicht doch überleben könnte. Noch einmal in diesem Zustand auf die "Reise" gehen, wollte ich nun wirklich nicht.
Friedel, schon immer kesser als ich, ging auch sofort an die versteckten Lebensmittel und machte mir erst einmal ein richtiges Essen, zumal sie auch aus dem Lüneburger Land einige wertvolle Lebensmittel hatte mitbringen können.
Meine Eltern waren in Natendorf auf einem Rittergut untergebracht, hatten auch schon eine Behelfswohnung beziehen können, ohne Möbel versteht sich. Die mußten zusammengetragen und zusammengebettelt werden. Ein paar Wehrmachtsschränke hatten sie wohl schon bekommen können. Friedel fand dann im Keller meines Schwiegervaters einen alten abgelegten Spiegel, der ihre ganze Seligkeit war. Sie war einerseits froh, daß sie wieder aus dem ewigen Bombenhagel herauskonnte, andererseits aber sehr zerknirscht, daß ich nicht mit ihr fuhr.
Unterwegs wurde ihr Zug von Tieffliegern angegriffen, alle mußten schnell den Zug verlassen und sich hinter die Bahngleise werfen. Da war es dann um den Spiegel geschehen; aber der Rest davon hat dann doch noch lange in der Küche gehangen. Sie hat mir später gesagt, daß sie doch heilfroh war, daß ich nicht in diesem Zug mit ihr saß. So schnell hätte ich gar nicht laufen können.

Ewige Bombardierungen

Es war Winter, Heizmaterial gab es kaum. Ab und zu konnte ein Brikett aufgelegt werden. Wir besaßen alle einen Beistellherd, in dem alles verbrannt werden konnte, was brennbar war. Manchmal habe ich mir einen Ziegelstein auf dem Herd warm gemacht. Am Tage habe ich ihn im Arm gehabt oder mich ein wenig auf ihn raufgesetzt. Für die Nacht kam er dann in mein Bett.
Zwischendurch gab es immer wieder Angriffe durch die Bomber. Wenn wir im Keller saßen, waren wir meist mucksmäuschenstill, um ja nicht zu überhören, ob vielleicht kleine Brandbomben in das Haus schlugen. Dann mußte man schnell auf den Boden, um zu löschen. Überall standen Eimer mit Wasser und Säcke mit Sand. Ausgebildet waren fast alle. Einige ältere Männer, die das "Heldenklaukommando" wirklich nicht mehr zum Wehrdienst hatte holen können, waren sehr brauchbar.
Mein Mann war katholisch, und in der Wohnung seiner Eltern stand auf einem Tischchen das Jesuskreuz und auch ein Bild der Mutter Maria. Abends, wenn die Sirenen wieder heulten, wartete ich immer, bis meine Schwiegereltern nach unten gingen. Ich konnte die Wohnung einfach nicht verlassen, ohne mich vor dieses Tischchen zu knien und um Beistand zu flehen. Man mag darüber denken, was man will, mir jedenfalls hat es geholfen. Ganz ruhig und ohne Hast bin ich in den Keller gegangen, und wenn das Haus schaukelte, weil in der Nähe mal wieder eine Bombe runtergegangen war, dann war ich immer voller Zuversicht. Selbstverständlich habe ich mich geängstigt; manche meiner Leidensgenossen wimmerten leise, oder stöhnten auch laut. Es kam auch vor, daß mal einer einen dummen Witz machte.
Und wieder konnten wir nach oben gehen. In der Wohnung war manches ein wenig durcheinandergeschüttelt worden, aber für vielleicht zwei oder drei Stunden konnten wir uns wieder hinlegen, fast voll bekleidet selbstverständlich.

Geburt bei Bomben

Eine Hebamme hätte ich mir längst besorgen müssen, aber weit und breit gab es keine. Sie hielten sich in den Mütterbunkern auf, in den man mich auch mit Gewalt hinbringen wollte. Der hat dann auch einen Volltreffer bekommen, und keine Seele ist heil heraus gekommen. Eine recht alte Dame, schon längst in Pension, die aber immer als Hebamme gearbeitet hatte, hat mir dann versprochen, zur rechten Zeit bei mir zu sein. Aber meine Zeit kam fast vier Wochen zu früh.
Am Abend des 20. 3. bekam ich plötzlich Wehen, die sich die ganze Nacht und auch den nächsten Tag hinzogen. Ich lag da und wand mich vor Schmerzen. Außer ein paar tröstenden Worten gab es keinen fachkundigen Beistand. Endlich, morgens am 22. 3. erschien meine Hebamme. Abgehetzt hatte sie endlich den Weg durch Trümmer und Schutt zu mir geschafft.
In der Zwischenzeit konnte ich nicht in den Keller, obwohl die Bombenangriffe ständig zunahmen. Aber nicht nur meine Schwiegereltern blieben mit mir in der Wohnung, es gesellten sich auch einige Nachbarn dazu.
Die Hebamme hat mir das Kind fast aus dem Bauch herausgezogen, von oben geschoben und von unten gezogen. Endlich hatte ich es geschafft, und mein Sohn erblickte das recht zweifelhafte Licht der Welt. Ich versank in Ohnmacht, bekam beim Erwachen Nierenkrämpfe, der Kiefer verdrehte sich, und weg war ich. Als ich zu mir kam, standen mindestens 15 Leute an meinem Bett und im Türrahmen ein uniformierter Militärarzt, den jemand von der Straße geholt hatte. Da ich stark gerissen war, bat die Hebamme den Arzt, auch noch eine Naht zu machen, was er dann auch, Äther hatte er nicht, ohne eine Betäubung durchgeführt hat. Ein Frauenarzt war er sicher nicht, aber Wunden zusammennähen konnte er.
Unser Zimmer glich einem Schlachtfeld. Während der Entbindung war eine Granate in den Garten geflogen und hatte das ganze Fenster samt Rahmen ins Zimmer geschleudert. Niemand wurde verletzt.
Und wieder heulten die Sirenen. So wie ich eben meine Entbindung überstanden hatte, wund von der Naht, erschöpft von der weit über 30 Stunden dauernden Anstrengung, mußte ich jetzt in meinen Trainingsanzug kriechen und mit meinem Kind in den Keller. Ich lag auf einer bereitgestellten Liege und mein kleiner Sohn neben mir in einem alten wackligen Kinderwagen. Das war eine neue Situation für uns beide. Flach liegend fühlt man das Unheil anders auf sich zukommen. Wenn ich merkte, daß die Bomben fielen, warf ich mich mit meinem Oberkörper über das Kind. Jetzt konnte ich ihm nicht mehr den Schutz bieten, der mich doch irgendwie beruhigt hatte.
Einundzwanzig Jahre war ich alt und wog nach der Entbindung kaum 90 Pfund. Später habe ich noch mehr abgenommen. Aber es wurde immer schlimmer. Milch und alles fehlte, was man für ein Baby braucht, abgesehen von einer vernünftigem Hygiene wegen des dauernden Wassermangels. Aus der Wasserleitung gab es eine geringe Zuteilung, die kaum für täglichen kümmerlichen Bedarf ausreichte. Wäsche konnte man damit kaum waschen. Also ging man auf die Straße zu den für den Bedarf geöffneten Hydranten und wusch ohne Waschmittel und kalt, da die Strom und Gaszuteilung sehr knapp bemessen war.
So bin ich zu einer Drogerie gelaufen, oder zu dem, was von ihr übriggeblieben war, und habe mir Färbemittel in blau besorgt und damit die Kinderwäsche blau gefärbt. Mein Schwiegervater drehte vollends durch, wenn er daran dachte, daß das Kind nicht getauft war. Also hat er schnell einen Paten gesucht, der dann aber wegen der Angriffe nicht erscheinen konnte. Es war übrigens der Komponist Riethmüller, der auch durch die Sendung von Hänschen Rosenthal bekannt wurde.
Ich hetzte also zur katholischen Kirche, wurde vom Pater an der Tür mit dem Weihwasser empfangen. In aller Hast sprach er den Taufspruch, und im Eiltempo ging es zurück, weil die Sirenen schon wieder heulten, mein Schwiegervater mit seinem Selbstfahrer hinter mir her. Und schon saß ich mit meinem Täufling wieder im Keller. Unter anderen Umständen hätte ich ihn niemals katholisch taufen lassen, aber man hatte mir versichert, daß getauft, getauft ist, da spielt es keine Rolle, ob evangelisch oder katholisch.

Die Russen sind da

Aber die Luftangriffe wurden immer schlimmer, die Beschaffung der zugeteilten Lebensmittel immer schwieriger, und schon lagen wir zwischen den Fronten. Von der einen Seite schossen die Russen herein, von der anderen die Deutschen. Wie ängstliche Hasen zusammengekauert saßen wir im Keller und wußten nicht, was auf uns zukommen würde. Etwas Gutes sicherlich nicht. Über eines aber waren wir uns alle im klaren: "Hoffentlich sind die Russen bald da, damit dieser Wahnsinn endlich aufhört." Dann waren sie da – und Gott hilf – es war fürchterlich! Schnell wollte ich noch einmal aus dem Keller, um etwas aus der Wohnung zu holen, und da standen sie vor mir. Drei Russen, drei Mongolen. Ich rannte zurück, riß mein Kind aus dem Kinderwagen und weinte mir das ganze Elend von meiner Seele. Die ersten Russen kamen auch gar nicht in den Keller; sie konnten nicht sicher sein, daß sich hier nicht bewaffnete deutsche Soldaten versteckt hielten.
Jetzt gab es überhaupt keine Möglichkeit mehr, aus dem Keller zu kommen. Als ein wenig Ruhe eintrat, und man uns sagte, daß die Lebensmittelhändlerin, deren Laden schräg über den freien Platz lag, kurzfristig geöffnet hatte, um die hungernden Menschen etwas zu versorgen, drängten mein Schwiegervater und ich seine Frau, doch schnell mal rüber zu laufen. Einige Frauen und Männer aus dem Keller machten sich auf den Weg, darunter auch eine junge Mutter von Zwillingen. Aber, Gott stehe mir bei, alle wurden schwerverletzt in den Keller gebracht, mehr geschleppt als getragen. Die junge Mutter hatte noch erträgliche Verletzungen, aber die anderen!! Unsere Nachbarin hatte mehrere große Ganatsplitter im Bauch, der Vater meiner Freundin Fritzi Friedrich, damals bahnte sich unsere nie versiegende Freundschaft an, hatte zwei große Verletzungen in der Schulter und meiner Schwiegermutter waren beide Beine abgerissen. Daraufhin wollte ich aus dem Keller laufen, wurde aber daran gehindert, weil mich zwei Granatsplitter in den rechten Oberschenkel trafen. Mein Schwiegervater hatte natürlich berechtigte Furcht, mit dem Kind alleine zu bleiben und ließ mich nicht gehen.
Die Russen, die jetzt in unseren Keller kamen, waren durch die Schwerverletzten gehemmt, und so sind wir, jedenfalls in unserem Keller, von Vergewaltigungen verschont geblieben. Eine RotKreuzSchwester, die von unseren Verletzten gehört hatte, kam in unseren Keller und grüßte "Heil Hitler". "Oh Gott, Kinder, entschuldigt, entschuldigt! So schnell geht es mit der Umgewöhnung nicht." Froh waren wir nur, daß in dem Augenblick keine Russen im Keller waren.
Einen jungen Mann, der bei der Post angestellt war und nicht Soldat werden konnte, weil er schwer zuckerkrank war, aber leider die Posthosen mit den gelben Biesen anhatte, erschossen die Russen vor den Augen der alten Mutter. Er fiel ihr in den Arm und hauchte nur: "O Gott, Mutter!" Die Mutter hatte weder den Schuß gehört, noch was ihr Sohn ihr sagte; sie war schwerhörig und auf die Hilfe und den Verdienst des Sohnes angewiesen.
Man erzählte uns, daß ein paar Männer draußen zwischen den Trümmern ihr Grab schaufeln mußten. Nach einem GenickSchuß wurden sie kurzerhand in die Löcher befördert. Und das geschah nicht nur an einer Stelle.
Ein Russe wollte mich dann doch unbedingt aus dem Keller holen. Er stand vor mir, drückte mir ständig den Gewehrkolben in die linke Schulter und wiederholte immer wieder: "Wo ist Mann, wo ist Mann?" Ich blickte zur Seite, sah meinen Schwiegervater, wie ihm die Tränen auf seine Jacke tropften. Ich nahm mein Kind aus dem Wagen und bedeutete dem Russen, doch endlich zu schießen. Eine Mitbewohnerin, brachte eine Flasche Schnaps und besänftigte den Russen damit. Nun hatten wir natürlich alle Angst, daß er im betrunkenen Zustand erst recht zudringlich werden würde. Fritzi und ich haben dann versucht, uns alt anzumalen.

Das Sterben

Dann starb meine Schwiegermutter; danach starb die Nachbarin mit den Bauchschüssen, die andern stöhnten und weinten, und ich konnte durch den erlittenen Schock meinem Kind nicht die notwendige Nahrung geben. Mühselig kratzten wir zusammen, was man einem Kind geben kann, aber es reichte ja nicht. So hat der arme Junge ständig geschrien, natürlich auch in der Nacht. Gerade dann kamen die Russen nicht in den Keller, und man konnte ein paar Stunden schlafen. Die Dunkelheit war ihnen wohl auch nicht geheuer. Am anderen Tag sollten die Toten beerdigt werden.
Mittlerweile hatte sich Zahl der Ziviltoten stark vergrößert. Ich weiß nicht mehr, wie viele Menschen auf dem Innenhof verscharrt wurden, anders konnte man das nicht nennen. Um uns herum wurde immer noch gekämpft, und die Fliegerangriffe hörten auch nicht auf. Am Ende waren dann wohl mehr als 20 Menschen verscharrt, die noch nicht einmal vernünftig zugedeckt werden konnten, denn ständig mußten die Männer, die uns noch geblieben waren und Gott sei Dank hatten wir die alten Männer bei uns im Keller schnell wieder in den Keller zurück.
Ich bekam Ärger, weil das Kind in der Nacht so geschrien hatte, und ich aber auch gar nichts gehört hatte. Plötzlich fehlte es dann auch an Wasser, und nun war kein Mensch bereit, für mich sein Leben zu riskieren. So machte ich mich auf, die nächste Pumpe aufzusuchen. Um den Arm bekam ich eine weiße Binde, damit die Russen auch meine Ergebenheit erkennen konnten. Aber da gab es dann noch die verrückten deutschen Werwölfe, die auf alles schießen wollten, was weiße Fahne zeigte.
Ich bin dann mit meinen beiden Eimern, die Angst im Nacken, wußte ich doch, was meiner Schwiegermutter passiert war, über den großen Platz gelaufen, um die einzig funktionierende Pumpe zu suchen. Überall lagen tote Menschen herum, immer nur Zivilpersonen. Sie lagen am Rande der Gärten, an den Häuserwänden usw. Endlich hatte ich die Pumpe erreicht, aber hier standen viele an. Die Kugeln pfiffen uns um die Ohren. Ein Mann vor mir meinte, wenn ich das Pfeifen gehört hätte, dann wäre es sowieso schon vorbei.
Vor mir lag eine tote, junge Frau, die Arme ausgebreitet, an jeder Hand einen Eimer. Endlich war ich an der Reihe und konnte mit zitternden Knien den Heimweg antreten. Da kamen mir zwei Panzer entgegen, die ich für amerikanische hielt. Es waren die Russen. Was immer sie auch vorhatten, sie steuerten jedenfalls auf mich zu. Ich rannte, fiel hin, das meiste Wasser aus den Eimern floß auf die Straße. Mein Schwiegervater stand in der Haustür, achtete nicht auf Granaten und Splitter. Er stand da und weinte und weinte.
Erschöpft warf ich mich im Keller auf meinen Stuhl und bat den lieben Gott inständig, etwas passieren zu lassen, damit ich endlich sterben konnte. Darüber habe ich später viel nachdenken müssen. Ich habe mir so sehr gewünscht sterben zu können, daß ich beinahe nicht mehr aufzuhalten war. Eine ältere Frau nahm mich in die Arme und machte mir klar, wie sehr ich mich versündige.
In der Zwischenzeit hatten die andern die Vorratskeller der abwesenden Bewohner dieses Hauses aufgebrochen und alles, was man an Lebensmitteln fand, rausgeholt. Da fand man denn auch ein wenig Reispulver, das ich meinem kleinen Jungen auf einem Spirituskocher zubereiten konnte. Von den andern Lebensmitteln habe ich nichts abbekommen, die hatte man untereinander aufgeteilt. Ich war Wöchnerin, hungrig, elend und unglücklich. So kramte ich dann in der Tasche meiner Schwiegermutter und fand einen ganz alten harten Brotkanten. An dem habe ich gelutscht und gekaut; nie hat mir ein Stück Brot besser geschmeckt..
Ein Russe kam, um uns mitzuteilen, daß Hitler tot sei. Er machte mit seinem Finger einen Schnitt über seine Kehle. So nahmen wir an, man hätte ihn aufgehängt oder die Kehle durchgeschnitten. Keinem Menschen hat das leid getan. Wenn es doch einen gab, dann merkte man es ihm jedenfalls nicht an.
Eine Ära war beendet.


Der Krieg war aus

Der Krieg war aus. Wir wurden aufgefordert, nunmehr die Keller zu verlassen. Unsere Befreier waren tätig gewesen. Sie hatten sich bedient und alles, was sie sich in die Taschen stecken konnten, hatten sie auch mitgenommen. Es gab keinen Schmuck, keine Uhr mehr. Aber es ging noch. Wir hatten unser Bett, und wir hatten keinen Fliegeralarm. Auf die Straßen trauten wir jungen Frauen uns aber immer noch nicht. Endlich bekamen wir den Bescheid, draußen die Haustüren zu verschließen, die "ruhmreichen" sowjetischen Soldaten durften die Häuser nicht mehr betreten.
Bewundert habe ich bis heute, wie schnell die Lebensmittelzuteilungen organisiert werden konnten. Der Schutt auf den Straßen wurde wenigstens so weit geräumt, daß man so etwas wie einen Bürgersteig hatte. Ich bekam sogar eine Karte, auf die ich mir Milch von einer Meierei für mein Kind besorgen konnte. Da hieß es, jeden Morgen um vier Uhr aufstehen und nach langem Marsch, bewaffnet mit einer Milchkanne, die Meierei aufzusuchen. Mit welchen Gefühlen ich losmarschiert bin, kann ich gar nicht beschreiben, jedenfalls immer mit Angst im Nacken.
Große Hilfe hatte ich durch meinen Schwiegervater nun auch nicht mehr. Er war hungrig und manchmal recht unausstehlich. Dabei wußten schon erfahrene Hausfrauen nicht, wie sie den Hunger ihrer Familien mit den geringen Zuteilungen stillen sollten. Ich aber war gänzlich unerfahren, wie ich ein Kind unter diesen Umständen groß machen sollte, das ging doch über meine Kräfte.
Aber der Mutterinstinkt bringt viel zustande. Geschlafen habe ich in der Zeit wohl kaum, es sei denn, der Schlaf hat mich einfach übermannt. Aber aller Einsatz half nichts, mein Kind wurde krank, bekam die Ruhr. Ein irgendwoher aufgetriebener Arzt riet, das Kind in den Kinderwagen zu packen und eine Klinik aufzusuchen. Die lag ungefähr 7 km von der Wohnung entfernt. Ich habe mich auf den Weg gemacht, den Wagen, über Schutt und Geröll zu schieben. Damals wog ich keine 90 Pfund mehr. Die Entfernung kam mir so lang vor wie sonst 20 Kilometer. Dabei schielte ich natürlich immer nach links und rechts in der Angst, eventuell einem Russen zu begegnen. Zivilpersonen waren keine auf der Straße, die hatten sich alle verkrochen.
Endlich hatte ich es geschafft. Vor dem großen Eingangstor der Klinik standen so viele Mütter, daß an ein Hineinkommen überhaupt nicht zu denken war. Eine Ärztin kam und bat uns alle inständig, doch bitte nach Hause zu gehen. Es wäre ganz unmöglich, auch nur e i n Kind aufzunehmen. Neben mir stand eine junge Mutter, deren Kind in ihrem Arm schon tot war. Sie hatte es noch nicht einmal bemerkt. Verzagt machte ich mich auf den Nachhauseweg. Jetzt wurde ich von solcher Angst befallen, daß mir die Beine versagten; ich dachte, keinen Schritt mehr schaffen zu können.
Zufällig trat ein älterer Mann aus einem Haus, den ich dann gebeten habe, mich doch bitte nach Hause zu begleiten, da ich keine Kraft mehr hatte, den Wagen durch dieses unwegsame Gelände zu schieben. Erst war er ein bißchen ablehnend, aber dann hat er sich doch erbarmt und mich nach Hause gebracht. Mit Hilfe des Arztes habe ich recht und schlecht den Kleinen versorgt, und die Wäsche immer noch draußen im kalten Wasser bei dem Hydranten auf der Straße gewaschen.
Meinem Schwiegervater hatten die Russen seinen motorisierten Selbstfahrer fortgenommen. Sie machten sich großen Spaß, mit dem Fahrzeug immer hin und herzufahren. Aber für vier bis fünf Männer war der Selbstfahrer kaum geeignet, und so haben sie ihn vor seinen Augen kaputt gefahren. Aber er hatte noch den von Hand zu bedienenden und konnte wenigstens ab und an die kärglichen Einkäufe machen.
Endlich bekam ich einen Platz für meinen Sohn in einer Klinik. Für die damaligen Verhältnisse war die Klinik einigermaßen ausgerüstet. Immerhin hatte Frank bei der Geburt mehr als sieben Pfund gewogen, und so hatte er etwas zuzusetzen. Endlich durfte ich ihn wieder nach Hause holen. Mehr als Reis, Haferflocken und Milch gab es nicht; aber damit konnte er gut zurechtkommen.
Aus einer alten Trainingshose von seinem Vater nähte ich ihm einen klitzekleinen Anzug.
Eine Bekannte hat mir dann aus meinem Stoff für die Schwangerschaft zwei recht hübsche Kleider genäht. Ab und an konnte man sich auch schon die Haare waschen, und so sah ich dann aus, wie ein Kind, das ein Kind hatte.
Zu allem Übel wurde ich nun auch noch stundenweise zu EnttrümmerungsArbeiten kommandiert. Die Bürgersteige wurden vom meisten Schutt befreit, überall türmten sich die abgeklopften Ziegelsteine. Die Trümmerfrauen leisteten Schwerstarbeit.
Wegen meiner erheblichen Rückenschmerzen wurde ich von den Arbeiten befreit. Allmählich hatte man auch eingesehen, daß ich mit einem Kleinkind und einem schwerbehinderten Schwiegervater nicht auch noch solche schweren Arbeiten machen konnte. Anlaß für meine Entlassung war, daß ich einmal an die Hausmauer gelehnt, ganz langsam zusammenrutschte und ohnmächtig am Boden liegen blieb. Es war Hunger und einfach auch Überbelastung. Von der Arbeit habe ich einen dauerhaften Bandscheibenschaden, der mir mein Leben bis heute sehr schwer gemacht hat.

Neue Hoffnung

Wir trauten uns wieder auf die Straße. Es war Mai und auch recht warm. Aber wenn man jung ist, die Sonne scheint, und wenn man ein neues Kleidchen anhat, den Blick nicht unbedingt nach unten richtet, sondern in den Himmel schaut, dann sieht man Streifen am Horizont. Fritzi Friedrich und ich, wir freundeten uns richtig an. Unsere gemeinsamen Erlebnisse im Keller, gleich alt waren wir auch, vermittelten ein unsagbar starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir sind mit dem Kleinen zu dem nahegelegenen Humannplatz marschiert. Ein paar Bänke standen tatsächlich noch da.
Hinter uns gab es einen großen Feuerlöschteich, aus dem wir Wasser holen konnten. Wir haben uns auf die Bank gesetzt, uns von der lieben Sonne bescheinen lassen. Wie lange hatte es das schon nicht mehr gegeben! Die Vögel zwitscherten. Das war so auffällig, weil wir monatelang nichts von ihnen gehört hatten. Wo waren sie gewesen? Unvorstellbar, daß auch nur ein Vogel die Detonationen der großen Bomben überlebt haben konnte. Ganz bestimmt waren sie von irgendwoher eingeflogen. In der Vergangenheit war ja fast nichts mehr selbstverständlich gewesen. Das war es auch jetzt immer noch nicht.
Unserer Euphorie wurde auch schnell wieder ein Dämpfer aufgesetzt, denn als wir Wasser aus dem Feuerlöschteich holten, fanden wir auf dem Grund tote Menschen liegen, deutsche und russische. Hinter einem Baum lag ein sehr junger russischer Soldat. "Um den", sagten wir uns, "weint auch bald eine Mutter." Haufenweise fanden wir abgelegte Kleidungsstücke von deutschen Soldaten. Einer, man hatte ihn noch nicht gefaßt, suchte in den Sachen herum. Die Tränen rannten ihm, während er irgend etwas in die Taschen stopfte. "Sieben Jahre umsonst, sieben Jahre umsonst", schluchzte er vor sich hin.

Die Mutter, deren Sohn man erschossen hatte, machte sich über ein gefallenes Pferd her. Das Fleisch teilte sie mit uns. Wir haben es durch einen Wolf gedreht und uns Frikadellen gemacht. Ohne Fett selbstverständlich, in Wasser gebraten.
Ganz langsam wurden auch Strom und Wasserzuteilungen besser. Ich konnte manches Stück sogar bügeln. Während ich am Bügelbrett stand, gab es plötzlich Alarm. Eine Sirene heulte fürchterlich auf. Das Bügeleisen fiel mir vor Schreck aus der Hand auf die Küchenfliesen. Ich rannte nach draußen. "Ganz ruhig," hörte ich es sagen, "da macht eine schnell wieder auferstandene Firma Feierabend." Wie man allerdings auf den Gedanken kam, Sirenen einzuschalten, wollte uns allen nicht in den Kopf.

Auf den Hauptstraßen mußten wir mit ansehen, wie verschiedene Menschen, meistens Männer, auf Lastwagen abtransportiert wurden. Wenn sie die Möglichkeit hatten, warfen sie Zettel, um den Angehörigen mitteilen zu lassen, wo sie geblieben waren. Ich glaube, daß jeder, der solch einen Zettel fand, ihn weiterleitete. Wir wußten alle, daß die Transporte nach Rußland gingen.
Meinem "Bombenkind" ging es immer besser. Säuglinge kann man mit Milch und Haferflocken groß kriegen; die Mängel stellen sich später ein; aber bis jetzt war nichts zu merken.
Es waren auch schon drei Monate vergangen, und allmählich kehrte der eine oder andere Soldat wieder heim. Wir warteten natürlich auch darauf, daß Franks Vater heimkehren sollte. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihm unsern prächtigen Jungen zu zeigen. Die Überraschung hat mir dann eine vorwitzige Nachbarin verdorben; er wußte alles. Was er nicht wußte, waren die näheren Umstände.
Na, ja, das ist "ein weites Feld" würde Fontane gesagt haben.
Anmerkung: Mein Sohn Frank lebt heute mit seiner Frau und zwei Töchtern in Kiel.

E. Mo. Hanemann

Die Fortsetzung dieses Erlebnisberichtes finden Sie HIER ( Heimat-Bote 38)

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