Heimat Bote Nr. 37


"Habenichtse"

Zu: "Bilder ans einem oft verdrängten Kapitel der Geschichte";

WELT vom 21. März

Mit Interesse las ich Heimatvertriebene aus Marienburg/Westpreußen (71) den im Großen ausgewogenen Artikel, bis ich mit Entsetzen auf die letzten Ausführungen stieß, die die wirtschaftliche Eingliederung von weit mehr als zwölf Millionen "Habenichtsen" loben. Wie kann man meinen Landsleuten vertrieben, entwurzelt, geschändet, ihres im Osten hinterlassenen Besitzes oder gar der letzten Bündel, die man noch tragen konnte, beraubt den Stempel von "Habenichtsen" aufdrücken? Diesen "Habenichtsen" wurde obendrein noch eine angemessene Entschädigung endgültig verwehrt. Wie kann man mit meinem Volk aus dem Osten Deutschlands so unsensibel umgehen?

Chüstel Holm 25436 Tornesch


Die Antwort

Es war Josef Stalins teuflische Idee, mit den ihres Eigentums beraubten Menschen aus dem deutschen Osten, der Tschechoslowakei und Südosteuropa einen sozialen Sprengsatz in Rumpfdeutschland zu zünden. Dass dieses Kalkül nicht aufging, ist dem zähen Selbstbehauptungswillen der Heimatlosen, die im Gegensatz zu den Heimatverbliebenen tatsächlich bei Null beginnen mussten, und einer gegen manche kleinliche Widerstände durchgesetzten Eingliederungspolitik zu verdanken. Buchstäblich aus wilder Wurzel entstanden neue Betriebe und ganze Industrien; für dieses Wunder des Neuanfangs stehen Ortsnamen wie KaufbeurenNeugablonz, Waldkraiburg und Bubenreuth in Bayern oder Rheinbach und Espelkamp in NordrheinWestfalen, um nur einige herauszugreifen. Die größte materielle Not konnte gelindert werden. Aus "Habenichtsen" das Wort wurde von mir wohlweislich in Anführungszeichen gesetzt, war also überhaupt nicht als Stigmatisierung gedacht wurden in der Regel gleichberechtigte Teilnehmer an dem deutschen Wiederaufbauwerk.

"Niemand verhungerte, es gab keine Unruhen", resümierte 1964 der Bonner Staatssekretär Peter Paul Nahm, wahrscheinlich der beste Kenner der Materie. "Damit aber wurde die deutsche Not der Optik entzogen, und der Griff an das Herz der Welt blieb uns versagt." Nahm wollte damit sagen: Die Politik ging über das Thema der Vertreibung hinweg. Erst jetzt wird es, siehe die Dokumentation von MDR und NDR, vorsichtig aus dem Aktenschrank der Geschichte geholt. Die Eingliederung ist zweifellos gelungen, wenn man sie auf den Arbeitsplatz, die Wohnung und die soziale Absicherung bezieht. Das gilt freilich nicht für die Sozialstruktur in toto. Nur ein Drittel der ehemals Selbständigen wurde bis 1960 in der Bundesrepublik wieder selbständig. Am stärksten traf die soziale Umschichtung die Landwirte. Bei großzügigster Rechnung konnten nur 14 Prozent wieder auf eigenem Grund und Boden wirtschaften. Offen ist weiter die Eigentumsfrage der Vertriebenen, auch wenn die Politik darüber hinweggehen möchte.
Der Lastenausgleich (LAG) hatte übrigens lediglich die Funktion einer Nutzungsentschädigung. Denn das Gesetz bestimmt, dass die Annahme von LAGLeistungen "keinen Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rückgabe des zurückgelassenen Vermögens bedeutet."

Gernot Facius WELT 6.4.01


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