Heimat Bote Nr. 37


Kaliningrad zurück in die Isolation?

Mit der Aufnahme Polens und Litauens in die Europäische Union wird die russische Exklave Kaliningrad (Königsberg) vollständig von EUGebiet eingeschlossen sein. Der Provinz drohen damit schwere Nachteile, vor allem beim Personenverkehr und bei der Energieversorgung. Moskau und Brüssel suchen nach einer geeigneten Sonderlösung.

Wohl keine Grenze in Europa verläuft so schnurgerade durch die Landschaft wie jene zwischen Russland und Polen im Süden des Kaliningrader Gebiets. Offensichtlich war man 1945 mit dem Lineal am Werk, als es galt, das von den deutschen Truppen geräumte Ostpreussen in zwei Teile zu zerschneiden. Die südliche Zone fiel an Polen, die nördliche mit der

Stadt Königsberg an die UdSSR.

Von Kaliningrad, wie die Stadt Immanuel Kants seit 1946 heisst, führte der Weg nach Süden einst über Brandenburg, Ludwigsort, Pottlitten nach Heiligenbeil. Nun tragen alle diese Orte russische Namen Uschakowo, Laduschkin, Pjerwomaiskoje und Mamonowo. Deutsche leben hier nicht mehr, nach ihrer Vertreibung wurden Sowjetbürger angesiedelt. Dennoch fühlt man sich in dieser sanft gewellten Landschaft nicht in Russland: Vielerorts blieben preussische Backsteinbauten erhalten, und hoch über dem Frischen Haff stehen trotz Jahrzehnten der Vernachlässigung die Reste der Ritterburg Balga, von wo aus der Deutsche Orden im 13. Jahrhundert die Kolonisierung der Region vorangetrieben hatte.


Ein Paradies für Schmuggler

Südlich von Mamonowo beginnt eine kilometerlange Autoschlange bis zur polnischen Grenze. Viele Fahrer haben sich bereits am Vorabend eingereiht und die Nacht im Auto verbracht, um am Morgen nach der Öffnung der Kontrollposten möglichst rasch die Grenze passieren zu können. Wer es eilig hat, kann sich bei den «Glatzköpfigen», die Umschreibung für die Mafia, einen Standplatz weiter vorn erwerben. Andrei, ein junger Russe aus Kaliningrad, erzählt bereitwillig, weshalb er und die meisten anderen in der Schlange mehrmals die Woche den Weg nach Polen und zurück fahren. Gleich hinter der Grenze könne er seine Ware abliefern fünfzig Stangen Zigaretten und siebzig Liter Benzin, die er irgendwo in seinem VW versteckt. An normalen Tagen verdiene er fünfzig Baksy (russischer Slang für Dollar), für lokale Verhältnisse eine stattliche Summe.

Kaliningrads Status einer Sonderwirtschaftszone mit umfangreichen Zoll und Steuerprivilegien hat zu einem blühenden Schmuggel mit den Nachbarländern geführt. Für viele Einwohner der verarmten Provinz sind die kleinen Geschäfte über die Grenze hinweg die einzige Möglichkeit, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Neun Millionen Grenzübertritte registrierten Kaliningrads Behörden im vergangenen Jahr; die etwa 950000 Einwohner der Oblast zählen damit zu den fleissigsten Grenzgängern ganz Russlands. Dabei war die Region noch bis vor zehn Jahren ein fast hermetisch abgeschlossenes Gebiet, das hauptsächlich militärischstrategischen Zielen der Sowjetunion zu dienen hatte. Mit dem Zerfall der UdSSR fielen die Reisebeschränkungen, um aus und nach Kaliningrad zu gelangen. Zugleich aber kündigten sich neue Probleme an: Der östliche Nachbar Litauen war nun keine Sowjetrepublik mehr, sondern ein unabhängiger Staat und Kaliningrad damit eine vom russischen Mutterland abgetrennte Exklave.

Doch die Tore des Gebiets sind weit zur Aussenwelt hin geöffnet. Seine Einwohner dürfen Polen und Litauen vorläufig noch visumsfrei besuchen. Der Personalausweis reicht dafür aus. Auch Westeuropa liegt fast vor der Haustür: Berlin ist nur halb so weit entfernt wie Moskau. Kein Wunder also, dass sich die Kaliningrader beispielsweise auf die Einfuhr von Gebrauchtwagen aus Deutschland spezialisiert haben. Auf den Strassen der Stadt am Pregel sind die russischen Lada und Moskwitsch gegenüber den Westautos klar in der Minderheit.

Mit der Integration Ostmitteleuropas in gesamteuropäische Strukturen wird Kaliningrads geographische Sonderlage jedoch zunehmend zum Problem. Polen ist seit kurzem Mitglied des Nordatlantikpakts, und mit dem absehbaren Beitritt Litauens wird Kaliningrad rundum von NatoGebiet eingeschlossen sein. Grössere Veränderungen für die Bevölkerung wird die Osterweiterung der Europäischen Union bringen. Falls Moskau und Brüssel für die Exklave nicht eine Sonderlösung finden, gerät Kaliningrad paradoxerweise in eine neue Isolation. Denn Polen und Litauen werden mit ihrem Beitritt zur EU strengere Grenzkontrollen einführen und die Sonderregelung über visafreie Einreisen von Kaliningrader Bürgern aufheben müssen. Diese Perspektive missfällt nicht nur den Schmugglern, sondern hat Folgen für alle Einwohner. Sie werden sich künftig Transitvisa besorgen müssen, um ins russische Kernland reisen zu können. Auch wenn die EU ein vereinfachtes VisaRegime einrichten sollte, nähme der finanzielle und zeitliche Aufwand für die Kaliningrader zu. Viele von ihnen besitzen noch nicht einmal einen Reisepass – ein Dokument, das man in Russland oft erst nach einem bürokratischen Hürdenlauf oder saftigen Schmiergeldzahlungen erhält.


Kaliningrad hinkt Russland hinterher

Sorgen bereitet die geplante EUErweiterung der Regionalregierung noch aus anderen Gründen. Die Provinz deckt ihren Strombedarf praktisch ausschliesslich mit Importen aus Russland, die über litauisches Gebiet nach Kaliningrad gelangen. Litauen peilt jedoch einen Verbund mit dem mitteleuropäischen Elektrizitätsnetz an und die Übernahme entsprechender technischer Standards. Damit drohen Kaliningrad die Abkoppelung vom russischen Stromverbund, die vollständige Abhängigkeit von ausländischen Lieferungen und wesentlich höhere Tarife. Die jährlichen Mehrkosten durch den Einkauf von mitteleuropäischem Strom schätzt das russische Wirtschaftsministerium auf 135 Millionen Dollar.

Transitprobleme und höhere Energiekosten werden die Wirtschaftslage in der Exklave verdüstern. Bereits heute hinkt Kaliningrad dem übrigen Russland hinterher; das durchschnittliche ProKopfEinkommen ist dort ein Drittel tiefer als in Kaliningrad. Industrie und Landwirtschaft verfielen hier im 20. Jahrhundert noch stärker als im russischen Kerngebiet; der einst bedeutende Kaliningrader Hafen, Russlands einziger eisfreier Zugang zur Ostsee, ist heute nur noch zu 30 Prozent ausgelastet.

Eine noch tiefere Kluft als im Vergleich zu Russland tut sich gegenüber den unmittelbaren Nachbarn auf: In Polen ist das durchschnittliche Lohnniveau achtmal, in Litauen fünfmal höher als in Kaliningrad. Tiefe Löhne mögen zwar für einige Industriezweige Konkurrenzvorteile bringen, aber sie spiegeln auch den viel höheren Lebensstandard, den die reformpolitisch erfolgreicheren Nachbarländer seit ihrem Abschied vom Kommunismus erreicht haben. Ihr Vorsprung wird sich in naher Zukunft noch vergrössern. Polen und Litauen ziehen einerseits viel mehr Investitionen an als Kaliningrad, anderseits kommen sie bereits jetzt in den Genuss von massiven EUAnpassungshilfen.

Verspätet, aber zunehmend ernsthaft machen sich Moskau und Brüssel Gedanken darüber, wie die Konsequenzen der EUErweiterung für das ehemalige Königsberg abgefedert werden können. In Brüssel löst die Perspektive eines wirtschaftlich rückständigen, von sozialen Problemen erschütterten Landstrichs inmitten von EUGebiet Besorgnis aus; der für Aussenbeziehungen zuständige Kommissar Patten nannte Kaliningrad eine unter entsetzlicher Verschmutzung sowie enormen Drogen und Gesundheitsproblemen leidende Region und ein Zentrum des organisierten Verbrechens. Zu Jahresbeginn präsentierte Vorschläge der Kommission zeigen den Willen Brüssels, mit Moskau einen Dialog über die Anpassungsprobleme zu beginnen.

Auch der russischen Führung hat es gedämmert, dass sie ihre westlichste Provinz nicht mehr länger dem Schicksal überlassen kann. Moskaus Ängste vor einer Lockerung der wirtschaftlichen, kulturellen und vielleicht sogar politischen Bindungen Kaliningrads ans Mutterland sind unverkennbar. Das Gebiet besitze eine grosse geopolische Bedeutung für die nationalen Interessen, lautet die zentrale Botschaft einer vom Wirtschaftsministerium im März vorgestellten Konzeption zur Förderung der Region. Russland müsse Bedingungen schaffen, um die Gefahr eines Separatismus nicht aufkommen zu lassen. Die vom Kreml geförderte Wahl Admiral Jegorows, des Chefs der OstseeKriegsmarine, zum Gouverneur der Provinz wurde von einigen Beobachtern als Indiz gedeutet, dass Moskau in Kaliningrad hauptsächlich militärische Ziele verfolgt. Doch das Szenario einer bedrohlichen «Festung Kaliningrad», einer waffenstrotzenden Militärbasis mitten in NatoGebiet, verliert an Aktualität. Die Ostseeflotte und die in Kaliningrad stationierten Truppen sind in jüngster Zeit stark reduziert worden. Ihre Zahl beträgt laut offiziellen Angaben noch 25000 Mann und soll bald um weitere 8600 sinken. Admiral Jegorow erweist sich zudem als Gouverneur, der einer internationalen Kooperation viel aufgeschlossener gegenübersteht als sein Vorgänger. Moskau setzt auf wirtschaftliche, nicht militärische Mittel, um ein Abdriften der Region in Richtung EU zu verhindern. Die Regierung will ein Gaskraftwerk bauen lassen, das Kaliningrad künftig eine unabhängige Elektrizitätsversorgung ermöglicht. Zu diesem Zweck wird auch eine neue Gaspipeline geplant.


Echte Hilfe oder nur Schlagworte?

Ein Vertreter Kaliningrads im russischen Föderationsrat, Waleri Ustjugow, bezweifelt aber, dass der Staat die nötigen Mittel die Rede ist von mehr als einer Milliarde Dollar aufbringen kann. Zu oft hat man am Pregel grosszügige Versprechen Moskaus gehört, die sich letztlich als Luftblasen erwiesen. Skepsis ist auch angebracht, wenn die russische Regierung neuerdings davon spricht, die Exklave zu einem Musterbeispiel für marktwirtschaftliche Reformen und zu einer Pilotregion für eine erfolgreiche Kooperation mit der EU zu machen. An der Verunsicherung Kaliningrads haben solche Schlagworte bisher nichts geändert. Das Gefühl, vom Mutterland fallengelassen zu werden, verstärkte sich Anfang Jahr vielmehr noch, als die zentrale Zollbehörde der Kaliningrader Sonderwirtschaftszone kurzerhand einen Teil der Privilegien strich, was ihr grosse Verluste einbrachte.
Nach Protesten bestätigte die Regierung die Privilegien zwar wieder, kündigte aber ihre generelle Überprüfung an. Zu Recht wies Wirtschaftsminister Gref darauf hin, dass die 1995 gebildete Sonderwirtschaftszone nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Sie brachte vor allem den Schmuggel zum Blühen, ein attraktives Investitionsklima wurde jedoch nicht geschaffen. Das Beispiel des Fahrzeugherstellers BMW, der in Kaliningrad für den russischen Markt bestimmte Autos montieren lässt, blieb eine Ausnahme. Gerade das Fehlen ausländischer Investitionen zeigt, dass nicht nur Moskau, sondern auch Kaliningrad seine Hausaufgaben machen muss, um für den mit der EUErweiterung drohenden Anpassungsschock gerüstet zu sein. Die grassierende Korruption in der Exklave ist ein hausgemachtes Problem, ebenso die durch Misswirtschaft der Regionalregierung verursachte Schuldenlast. Anzeichen dafür, dass das von Jegorow im Wahlkampf versprochene «neue Leben» beginnt, sind nicht zu spüren. Der alte Kaliningrader Traum von einem «Hongkong des Baltikums» wird so schnell wohl nicht in Erfüllung gehen.

Neue Züricher Zeitung, 27. Juli 2001


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