Heimat Bote Nr. 37


Der Lebensvogel

Seit 1928 war ich an der Schule in Widitten Lehrer. Bei meinem Vorgänger war die Zahl der schulpflichtigen Kinder auf den tiefsten Stand, auf 17 gesunken, seit 1926 stieg sie jährlich. 1928 waren es über 30 Schüler. Jährlich kamen etwa 10 ABCSchützen zu, während nur ein bis zwei Kinder entlassen wurden. "Wenn das so weitergeht", dachte ich, "sind das in ein paar Jahren 80 Kinder, ein bißchen viel für eine einklassige Landschule." In Wirklichkeit waren es 1935 schon 83! Dann müßte eine zweite Lehrkraft kommen, und vielleicht müßte sogar ein neue Schule gebaut werden. Auch das traf ein, wenn auch erst im Jahre 1938.

Als ich einmal mit den Kindern darüber sprach, weil der Platz knapp wurde die Bänke reichten nur für 36 Kinder meinte ein Kind im Scherz: "Daran sind die vielen Störche schuld."

Bei der Storchenzählung hatte man festgestellt, daß die Zahl der Störche, die im Kriege 1914/18 sehr abgesunken war, gut anstieg, offensichtlich doch ein klarer Beweis für den Zusammenhang mit der Kinderzahl.

Ich fragte die kleine Frieda: "Bestellst du dir beim Adebar auch ein kleines Brüderchen?" "Ach nein. Wir haben all genug." Ich rechnete nach: 1, 2, 3, 4, 5 . . . allerdings reichlich.

Sobald aber ein Storch über die Dächer zu den Wiesen zog, sangen die Kinder im Chor: "Storch, Storch bester, bring mir eine Schwester! Storch, Storch, guter, bring mir einen Bruder!"

Es gab Dörfer in Ostpreußen, die 20 und mehr Storchennester besaßen. Auf einem auswärtigen Bauernhof waren sieben Nester auf vier Dächer verteilt. Bei Pr. Eylau hieß ein Dorf "Storchennest".

In Ostpreußen ist der Storch Charaktervogel der Landschaft, vielleicht weil der Tisch für ihn auf den vielen Weiden, Wiesen und Gewässern stets, gedeckt ist. Der Vogel ist möglicherweise so beliebt, weil unsere Vorfahren ihn als den Überbringer des Lebens im Frühjahr betrachteten. Sie wußten ja nicht, daß er im Winter in Afrika war. Er verschwand eben mit dem Grün in der Natur und kehrte wieder, wenn die Natur erwachte. Er brachte also das Leben zurück, daher nannten sie ihn Adebar = Odelbar = Lebensbringer. (Odelrune = Lebensrune)

Die Kinder wußten das nicht und sangen lieber:


De Oadeboar, de Oadeboar, de häft e lange Näs,
un wenne önne Groawe steiht,
denn kickt he ob de Wäs.


De Oadeboar, de Oadeboar häft rode Strömpkes an,
un wenne oppe Dach spazeere geiht,
förts wie e Edelmann.


De Oadeboar, de Oadeboar, de leggt e grotet Ei,
un wenn de Junge wöll ruter koame,
denn hackt he et entzwei.


De Oadeboar, de Oadeboar, de steiht op sinem Nest,
un wöll he sick a Varjneege moak,
denn klappert he met sine Freß.

De Oadeboar, de Oadeboar, de häft e dicke Kopp,
un wenne önne Frejoar wedder kömmt,
denn bringt he ons ne Popp.


In Widitten gab es wenig Störche. Ich hätte gern für ein Nest ein Wagenrad auf der Schule angebracht, aber als ich an der Bärwalder Schule den bekalkten Giebel und die Beete dahinter sah, ließ ich es bleiben. Aber wir sprachen oft in der Schule über die Störche und schrieben kleine Aufsätze über sie. Die kleine Annemarie schrieb nur einen Satz:

Der Storch hat einen langen Schnabel und der Schnabel siht gelb aus und zwei lange rote Beine und er siht weiß aus und schwarz aus und er hat zehn Zehn und sie legt Eier im Nest und wenn er gelegt hat, dann brütet sie aus und denn holt sie Futter für sie und dann gibt sie das Futter den kleinen und dann lernt sie flügen und der Storch ist ein Zuch Vogel und im Herbst flügen sie los in Amerika da ist es im Winter heis und hier ist es kahlt und Schnee und dohrt ist es wie im Sommer und da bamelen sie sich anne Schiffen wenn sie flügen weil es so weit ist.

Endlich ein Punkt! Das war doch eine Leistung für des zweite Schuljahr! Sie wußte noch nicht wo Amerika und Afrika liegen aber doch schon, daß es sehr weit sein mußte; und deshalb ließ sie ihre lieben Störche an den Schiffen baumeln, damit sie ja nicht ertrinken.

Wenn die Störche sich zum Wegziehen auf den Wiesen sammelten. waren die Kinder traurig und sangen:


Oadeboar von neege Jahr,

wenn ehr warscht wedder koame?

Wenn de Rogge riepe,

wenn de Pogge piepse,

wenn de däre knarre,

dann danze alle Narre.

Oadeboar von neege Jahr,

wenn ehr warscht wedder koame?

Wenn de Rogge riepe,

wenn de Pogge piepse,

wenn de däre knarre,

dann gahn wi bim Herr Pfarre.

Dann gehen sie zum Herrn Pfarrer zum "Unterricht" und dann werden sie eingesegnet und kommen aus der Schule. Das war ja wohl des Ziel jedes Dorfkindes, und die Wiederkunft des Storches zeigte, daß man dem Ziele näher kam.


Willy Hanemann : aus "Widitten" oder "Der Schulmeister erinnert sich".



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