Heimat Bote Nr. 37


Bärwalde


Herzlichen Dank für den Sommer Heimat Boten, den ich wieder gleich mit großem Interesse gelesen habe. Besonders habe ich mich über die Karte der blauen Anlage gefreut, auf der auch "Mein Bärwalde" abgedruckt war.

Wie ich schon einmal schrieb, war ich vor den großen Bombenangriffen von meiner Mutter im Kinderheim Bärwalde untergebracht worden. Nachdem mein Vater als vermißt galt, mußte meine Mutter arbeiten, hatte wenig Zeit für mich und fand Königsberg für ein Kind zu unsicher. So kam ich auf Empfehlung einer Verwandten im April 44 nach Bärwalde.

Als Einzelkind war es schon eine Umstellung, in einer großen Kinderschar bei recht strengen aber liebevollen, christlichen Schwestern zu leben. Die einklassige Dorfschule war ebenfalls eine neue Erfahrung. Ohne ständig "Heil Hitler" rufen zu müssen und vielen anderen politischen Mätzchen der Königsberger Ludwig Uhland Volksschule, hatte ich nun einen gemütlichen Lehrer, der mit Mühe versuchte, allen noch etwas beizubringen. Mein Zeugnis im Sommer war auch entsprechend, so daß meine Mutter mich vor allen Leuten im Zugabteil in Serappen zur Ferienreise an die See zusammenstampfte. Nach den Sommerferien wurde es noch enger in der Schule, da bereits die ersten Flüchtlinge in einem Raum untergebracht waren.

Zum Kinderheim Bärwalde gehörte ein Bauernhof mit Kühen, Pferden, Schweinen und einer Menge Geflügel und Landwirtschaft. Besonders der Hahn war ein Rabauke und rannte ständig hinter uns Kindern her. So war das Heim vorwiegend Selbstversorger.

Das Brot und der Sonntagskuchen wurden selbst gebacken, die Butter gestampft, viel eingemacht usw. Dies war für mich als Stadtkind alles neu. Nach der Schule waren wir alle im Haus, auf dem Hof und den Feldern beschäftigt. Für die Schule und zum Lernen blieb da zum Ärger meiner Mutter nicht mehr viel Zeit. In den Wäldern suchten wir Blaubeeren, Preiselbeeren und viele Pilze.

Es war schon ein besonderes Leben mit vielen Kinder in einem christlichem Haus. Ich kannte zwar viele Lieder und Geschichten schon aus der Sonntagsschule in der Kreuzkirche, wo wir bis 1942 in der Hochmeisterstrasse wohnten, nun aber lernte ich jeden Tag dazu, und heute kann ich noch ohne Gesangbuch mitsingen. Wir waren zirka 25 Kinder jeden Alters und hatten zwei große Schlafsäle für die Jungen und die Mädchen. Die Großen blieben im Hause nach der Schulentlassung und halfen in der Landwirtschaft im Haus und in der Küche. Die Heimleiterin war Mütterchen und wurde so von uns allen auch genannt. Eine Schwester kümmerte sich um Haus und Hof, und Tante Cilly und Tante Frieda waren für uns Kinder da. Eine strenge Erziehung zum guten, christlichen Menschen war oberstes Gebot. Vergehen wurden bestraft und große Sünden wurden von Mütterchen alleine bestraft mit dem "Siebenpinter", der allerdings nur noch drei Striemen hatte. Auch ich war einmal dran. Ich weiß nicht mehr wofür, nur an die Schmach kann ich mich noch gut erinnern.

Jeden Sonntag besuchte mich meine Mutter. Sie brachte immer die frischen Kleider für die Woche mit, da ich als "Selbstzahler" Privatsachen trug. Diese Ausnahme wurde aber von den Schwestern irgendwann abgeschafft, und ich bekam Heimsachen, Kleider und Schürzen für den Alltag, andere für die Schule und besonders zum Sonntag wurden wir fein und sauber ausgestattet.

Ich durfte meine Mutter immer vom Zug in Serappen abholen. Das war immer eine große Freude, denn ich vermißte sie sehr in diesem strengen Regiment.

Wir wanderten dann durch Wiesen und hatten uns viel zu erzählen. Sie blieb immer den ganzen Tag zu meiner großen Freude. Viel Besuch gab es nicht, da wohl viele Kinder keine Familie mehr hatten, und für zwei Kinder aus Berlin der Weg zu weit war.

Manchmal fuhr ich auch zum Wochenende nach Hause. So erlebte ich den ersten großen Bombenangriff auf Königsberg. Da wir aber schon auf den Hufen wohnten, blieben wir verschont, auch wenn der Keller erheblich bebte. Dies war ich aber schon durch frühere Angriffe in der Hochmeisterstrasse gewohnt, da der Hafen ja oft ein Angriffsziel war.

Eines Nachts wurden wir mit einem Höllenlärm geweckt und liefen alle auf den Hof. Es donnerte und krachte über Königsberg, und wir ahnten alle, daß es diesmal ein Riesenangriff war. Der Himmel war noch tagelang rot, und es roch nach Brand bis nach Bärwalde. Alle Bemühungen, unsere Lieben zu erreichen, schlugen fehl. Eines Tages kam ein Pferdewagen mit vielen Menschen und Habseligkeiten auf unseren Hof gefahren. Die Freude war groß, als auch meine Mutter, meine Tante und Onkel dabei waren. Der Boden wurde geräumt, wir rückten alle etwas zusammen, und so bekamen alle Platz. Zum Essen war genug da, nur die ärztliche Versorgung fehlte. Meine Tante und mein Onkel waren im Löbenicht ausgebombt und bei ihrem Versuch am Pregel Schutz zu finden, verbrannten meiner Tante die Beine durch Phosphor. Sie litt sehr stark und mußte dringend in ein Krankenhaus.

Wir hatten unser Zuhause behalten, aber nichts mehr war so wie früher, und die Angst kam auf. Einen Sonntag danach holte mich meine Mutter nach Hause und ging mit mir durch die zerstörte Stadt meiner Kinderzeit. Wir balancierten über die Holzbrücke zum Dom, in dem ich getauft war. Es war schrecklich, und die vielen an die Restwände geschriebenen Suchanzeigen habe ich bis heute nicht vergessen. Das war nun Königsberg mit seiner schönen Innenstadt. Allerdings sieht es heute nicht viel besser aus. Überall Häßlichkeit und der Putz bröckelt, und fröhliche Menschen habe ich auch wenig erlebt. Alles grau und trist und verkommen.

Der Herbst verging mit Pilzesammeln, Ernten und unseren Pflichten. Mit dem Pferdewagen ging es manchmal an das Haff nach Großheidekrug, so dass mir Ihr Zuhause durchaus noch ein Begriff war. Die Flüchtlinge wurden mehr, und schreckliche Geschichten kamen in Umlauf.

Der Winter kam, und unsere Kinderidylle ging langsam in Bärwalde dem Ende zu. Einige Kinder hatten ihre Eltern in Königsberg verloren, und von den Berliner Eltern kam auch keine Nachricht an.

Es wurde beschlossen, uns 16 kleinere Kinder nach Pommern/Köslin zu evakuieren. Und so ging es im Dezember mit Sack und Pack vom Hauptbahnhof 16 Kinder und Tante Cilly und Tante Frieda nach Köslin. Wir kamen gut an, nur Sack und Pack waren sehr reduziert. Leider war auch mein Kinderteddy dabei, den ich nach den strengen Regelungen nicht in meine Schultasche stecken durfte. Ich trauere noch bis heute, da mir nichts von meinem Zuhause übrig geblieben ist.

In dem großen Mutterhaus in Köslin waren über 200 Kinder, viele Verwundetete und alte Menschen untergebracht. Wir zogen in den Schulraum, und die nächsten Wochen lebten wir hinter Schränken und an Schultischen. Die Schule in Köslin besuchten wir auch noch einige Wochen.

Auch meine Mutter mußte mit ihrer Dienststelle Königsberg verlassen. Wir sahen uns zuletzt in Köslin an einem Weihnachtstag. Sie kam auf der weiteren Flucht um.

Am 1. März kamen die Russen. Dies kündigte sich schon lange an, da die Flüchtlingsströme täglich an unserm Haus vorbeizogen. Wir halfen beim Wasserholen und versorgten auch die Babys. Alle Menschen waren völlig verzweifelt und erschöpft.

Als die Russen bereits mit ihren Gewehren in Reichweite waren und kräftig das Kinderhaus beschossen, krochen wir durch die Fenster mit unserem Gepäck in die Keller des Lazaretts.

Dort harrten wir zwischen den Verwundeten bis zur Nacht aus, da angeblich von Himmler persönlich ein Zug zur Verfügung gestellt werden sollte. Der Keller war voller hoffender Menschen groß und klein.

Endlich in der Nacht ging es in kleinen Trupps zum Bahnhof. Uns hatte man Rucksäcke aus Kopfkissen mit Riemen gemacht. Dazu hatte noch jedes Kind zwei große Bündel mit Habseligkeiten unter dem Arm. Ich hatte sinniger Weise zwei Bügeleisen in Wolldecken verpackt unter den Armen. Zunächst rissen die Riemen, und dann machten die Russen auch Kinderschiessen auf uns, als wir über ein Schneefeld laufen mußten. Alle schafften es, allerdings fehlten einige Gepäckstücke. Der Weg bis zum Bahnhof durch die Stadt war fürchterlich. Tante Cilly hatte die Kleinen (ab drei Jahren) an der Hand, und wir gingen angefaßt so gut es ging hinterher.

Die Menschen drängten in Massen zum Bahnhof. Die Mütter versuchten Tante Cilly weitere Kinder zur Rettung in die Arme zu drücken. Dies ging allerdings nicht, da sie schon viel Mühe mit uns 16 Kindern hatte. Nach Stunden gab es tatsächlich einen Zug, der voller Verwundeter war. Soldaten trugen uns einzeln durch die Menschenmenge zum Zug, und irgendwann ging es auch los. "RÄDER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG" stand in Großbuchstaben am Zug, dies nahm ich in allem Chaos noch wahr.

Ich habe einen großen Teil der Zeit unter einer Bank verschlafen, leider auch die Essenverteilungen auf den Bahnhöfen und gottseidank auch die Tieffliegerangriffe, die viele Opfer forderten. Da die Toiletten alle mit Menschen besetzt waren, und wir den Zug beim Halt nicht verlassen durften, hatten viele in die Hosen gemacht.

So ging es tagelang. Wir standen Stunden auf der Strecke und boten so den Tieffliegern reichlich Sicht.

Swienemünde verließen wir vor dem großen Angriff, und es ging nach Stettin. Überall Chaos und viele Menschen. Unsere Schwestern hielten uns aber eng beieinander, und irgendwie landeten wir auf Usedom in Zinnowitz. In einem leeren Hotel fanden wir Unterkunft, Wasser zum Baden und Betten zum Schlafen. Auch Essen gab es. Nur leider gab es kein Salz mehr, so daß alles etwas fad schmeckte. Wir erholten uns alle etwas, und mit Singen, Beten und Spielen vergingen die wenigen ruhigen Tage.

Eines Nachts wurden wir hastig geweckt und mußten in Eile mit Sack und Pack zu Fuß im Laufschritt die Insel verlassen. Die Kleinen wurden zum Teil getragen, aber wir schafften es noch gerade, als hinter uns mit einem Höllenlärm die Brücke in die Luft gesprengt wurde. Da standen wir nun, aber irgendwie ging es weiter, bis wir alle heil und vollständig nach vier Wochen eines Nachts bei Bombenalarm in Hamburg ankamen.

Auch dort wurden wir in einem leeren Krankenhaus am Gänsemarkt untergebracht. Tagsüber spielten wir in den Ruinen und des Nachts saßen wir im Luftschutzkeller.

Dann wurden wir weiter nach Prisdorf verfrachtet. Da wir wohl alle etwas verwahrlost aussahen, kam eine Entlausung und stundenlanges Schrubben über uns. Wir waren ja Flüchtlinge und für die "Verschonten" eine besondere Spezis.

Auch hier war noch kein Ende. Tante Cilly wurde nun mit acht Kindern nach Segeberg in ein Heim des gleichen Diakonissenordens verlegt. Ich war auch dabei. Die wollten uns eigentlich auch nicht und brachten uns in einem kleinen Gartenhaus mit drei kleinen Zimmerchen mit einem kleinen Kanonenofen unter. Wir arbeiteten den ganzen Tag mit Kränzen, die wir vom Friedhof holten, aufbanden und für die Küche zum Kochen zerhackten. Bei den Kindern helfen, Saubermachen, Gartenarbeit, so waren unsere Tage gefüllt. Der Hunger war unser ständiger Begleiter, und Mangelkrankheiten waren die Folge. Tante Cilly sorgte so gut sie konnte für uns.

Im Mai zogen die Engländer in die Stadt. Auch so etwas wie eine Stadtverwaltung etablierte sich. Die Schwesterntracht von Tante Cilly mit acht Flüchtlings ggf. auch Waisenkindern brachten uns einige Erleichterungen und Dinge, die wir dringend brauchten, so wie Schuhe, Decken, und alte Wehrmachtskleidung zur Änderung für uns. Müllkippen, leerstehende Häuser und Obstgärten waren unsere Abenteuerspielplätze. Als die Schule im Herbst wieder begann, hatten wir alte Taschen, Papier von Parteibüros und kleine Bleistifte von den Engländern. Etwas Englisch hatten wir gelernt.

Dann mitten im Winter wollten uns die frommen Schwestern auch nicht mehr haben. Sie brauchten angeblich das kleine Gartenhaus. Wir wurden aufs Land bei Börnhöved auf einem Bauernhof auf den Boden verfrachtet. Zwei winzige Zimmer und ein Boden mit Dachsparren über uns. Vier roh gezimmerte Doppelbetten, Strohsäcke, ein Tisch neun Stühle und zwei Armeeschränke waren unsere Ausstattung.

Der Altbauer und seine Frau waren gar nicht begeistert, als ihnen nun acht Kinder von vier bis zwölf Jahren auf dem Kopf rumtrampelten. Es wurde für uns alle eine schwere Zeit. Nichts zum Essen, kein Heizmaterial, keine Schuhe und ein schrecklich kalter Winter. Beten, Singen und viele Geschichten aus der Bibel halfen zum Teil, aber trotzdem wären wir beinahe bei einem Bauern, der alles hatte, auf seinem Boden verhungert und erfroren.

So langsam fielen wir in dem kleinen Dorf auf. Es gab Menschen die uns halfen, denn eine Schwester mit acht kleinen FlüchtlingsWaisen konnte man nicht übersehen. Die Kirche, der Bürgermeister, ein Bäcker aus Ostpreußen, der Schlachter mit einem großen Eimer Wurstsuppe mit Einlage waren unsere Hilfen. Für unsern Schulweg von drei Kilometern nutzten wir auch englische Fahrzeuge, die in Plön stationiert waren. So erfuhren sie von uns, und nicht nur Weihnachten 1946 bekamen wir viele Weißbrote und Erdnußbutter.

Im Sommer arbeiteten wir beim Bauer, und so bekamen wir Kartoffeln und Wruken. Wir sammelten Ähren und hatten auch einen kleinen Garten. In der Schule wurde später eine Schulspeisung eingeführt. Sogar im kalten Winter, als die Schule wegen Heizungsmangel geschlossen war, gingen wir drei Mal in der Woche bei hohem Schnee mit einem Eimer Sojasuppe holen.

So überstanden wir die Zeit, und Tante Cilly hat Übermenschliches für uns geleistet. Leider fand das DRK nur wenige Angehörige. Viele Eltern und Angehörige hatten die Flucht nicht überlebt, meine Mutter leider auch nicht, und so war ich mit zehn Jahren ein FlüchtlingsWaisenkind, und der Weg zur ebenfalls geflüchteten Tante aus Königsberg ins Ruhrgebiet Ende 1947 Heime und vermeintliche Pflegeeltern begann.

Meine Mutter hatte mir auf den Lebensweg die eindringliche Forderung zur guten Schulbildung und einen vernünftigen Beruf mitgegeben. Mit vielen guten Hilfen und der Möglichkeit des zweiten Bildungswegs, Fleiß und Verzicht ging es auch. Nach Jahren durch Deutschland und in Schweden arbeitete ich viele Jahre in Hamburg und wohne seit 30 Jahren wieder in SchleswigHolstein.

So rundete sich der Kreis; aber Bärwalde und Schwester Cilly bleiben tief in meinem Herzen. Ich weiß leider nicht, was aus den andern Schwestern und großen Kindern aus Bärwalde geworden ist, die nicht rechtzeitig mit uns rausfuhren. Vielleicht wissen Ihre Leserinnen und Leser etwas von den Zurückgebliebenen in Bärwalde oder können mir von Bärwalde erzählen.

Nun ist mein Brief leider sehr lang geworden. Alles wurde wieder in mir wach, als ich Bärwalde auf Ihrer Karte sah. Was so ein Begriff wieder aus der Vergessenheit holt.


Herzlichen Dank und alles Gute für Sie und alle Leser.

Ihre Barbara Wagner


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