Heimat Bote Nr. 38


Palmnicker Geschichten
Frau Erika Schneider

Es war im Mai 1946, und auf Franeckshöh war eine neue russische Einheit eingezogen. Sie gehörte wohl der Marine an, denn die Soldaten trugen blaue Uniformen. Wir gingen gerne dort hin zum Arbeiten, denn wir fühlten uns hier vor Nachstellungen sicher, und auch im großen und ganzen waren alle höflich und freundlich zu uns. Unsere Arbeit bestand aus Dachboden und Ställe "utragge", auf hochdeutsch entrümpeln oder ausmisten, denn in manchen Ställen lag noch der Mist von Schweinen, Ziegen und Hühnern aus unserer Zeit herum. Der ganze Brassel, der dort lag, wurde von uns in Körbe gefüllt und dann den Seeberg hinunter gekippt. Eine einfache Entsorgung. So trabten wir dann die ganzen Tage zwischen Ställen, Häusern und Seeberg hin und her. An einem sehr schönen, warmen Tag saßen ein paar Russen auf der Treppe am Giebel eines Hauses und unterhielten sich. Dazu gehörte auch eine Frau im Range eines Leutnants. Wir deutsche Frauen und Mädchen, kamen zig mal an ihnen vorbei und schimpften nicht gerade leise auf alles und besonders auf die Russen. Das gehörte damals zum guten Ton und half uns wahrscheinlich auch, unser Los leichter zu ertragen.
Mit uns arbeitete auch Frau Minkwitz. Sie brachte jeden Tag ihren kleinen Jungen mit zur Arbeit, weil sie nicht wußte wohin mit ihm, denn sie mußte ja wenigstens die 200 Gramm Brot verdienen, die wir am Tag bekamen. Der kleine Gnos turnte nun auf dem Geländer der Treppe herum, auf der die Russen saßen, da sprach die Frau Leutnant im besten Deutsch und ohne Akzent Frau Minkwitz an und sagte: "Sie müssen auf ihren Kleinen aufpassen, sonst fällt er die Treppe runter." Wir trauten unseren Ohren nicht. Ganz bestimmt hatte sie unser Geschimpfe auf die Russen mitbekommen, hatte sich aber nichts anmerken lassen. Von nun an waren wir mit unseren Gesprächen etwas vorsichtiger.
Im frühen Sommer waren wir mit der Arbeit fertig und wurden auf dem Gutshof zur Arbeit eingeteilt, wo ein Depot für Flugzeugersatzteile eingerichtet wurde.
Es war ein Jahr später, im Mai 1947 nach dem schrecklich langen und kalten Winter, in dem so viele Deutsche verhungerten, (wobei gesagt werden muß, die Russen hatten auch nicht viel zu essen), da stand eines Tages die Frau Leutnant vor unserer Tür und fragte, natürlich im besten Deutsch, ob sie bei uns frischen Fisch kaufen könnte. Meine Mutter und mein Großvater arbeiteten nämlich in der Fischereibrigade und bekamen statt Geld mal mehr oder weniger Fisch zugeteilt, je nachdem wie der Fang ausgefallen war. Die Fische wurden dann weiter verkauft oder gegen PRODUKTE, wie es damals hieß, eingetauscht. Was auch zu unserem Lebensunterhalt beitrug, waren die Fischeier, der Rogen, die Milch und die Pomochelsköpp, die für uns abfielen, wenn die Frauen am Strand die Fische säubern mußten. So mancher Deutsche war auch froh mal einen Fischkopp von uns zu bekommen.
Ich war zu der Zeit arbeitslos, was es damals auch schon gab, und wirtschaftete zu Hause. So kam Frau Erika Schneider, so hieß sie, öfter zu uns, und wir führten lange Gespräche. über alles mögliche, Krieg, Politik und auch Literatur, und sie erzählte von der fürchterlichen Zeit in Leningrad, als sie von der deutschen Wehrmacht eingeschlossen waren. Als ich einmal über die schlechten Zustände hier klagte und auch meckerte, sagte sie: "Kindchen, sie haben ja keine Ahnung, wie es in Leningrad zugegangen ist, als wir dort eingeschlossen waren"; aber damals war ja Krieg. In der deutschen Literatur kannte sie sich sehr gut aus. Wir wohnten nicht mehr in unserer Wohnung, aber ich hatte beim Umzug meine Bücher mitnehmen können, und sie fragte eines Tages nach einem Buch, das sie in ihrer Jugendzeit mit Begeisterung gelesen hatte. Es hieß "Karin von Schweden" von Jensen. Ein nicht gerade sehr bekanntes Buch. Ich besaß es zufällig, und ihr wurden die Augen feucht, als sie es in den Händen hielt. Es erinnerte sie an ihre Kindheit und Jugendzeit. Ihre Eltern und Großeltern waren Deutsche, die in Petersburg gewohnt hatten oder noch wohnten. Ich weiß es nicht mehr, aber ich glaube, sie waren alle während der Belagerung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht umgekommen. Ihr Großvater war als Arzt und Professor von Thüringen nach Leningrad ausgewandert. Ihr Vater war auch Arzt geworden, und sie war dort in der schönen Stadt geboren und. mit deutscher Literatur aufgewachsen. Nach dem Rückzug der deutschen Wehrmacht wurde sie Soldat und ist dann in Palmnicken gelandet.
Anfang Juni 1947 wurde sie nach Cranz versetzt. Sie kam sich verabschieden, und versicherte mir, daß wir Deutsche in einiger Zeit ausreisen dürften. Es war ein bißchen unglaubwürdig, gingen doch schon längere Zeit diese Gerüchte um, und es tat sich nichts. Wir erhofften es sehr, und sie sollte etwas später Recht haben. Von meinen Büchern durfte sie sich aussuchen und mitnehmen, was sie wollte Ein paar Exemplare besorgte ich ihr noch von Pfarrer Jänickes, die die Leihbibliothek der Gemeinde von Umzug zu Umzug mitnahmen. So bekam sie unter anderem auch das Buch, geschrieben von Selma Lagerlöff, von der Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wildgänsen. Sie war überglücklich, hatte sie doch einen Teil ihrer Kindheit und Jugendzeit mit den Büchern zurück erhalten, wie sie mir versicherte.
Der Abschied fiel uns beiden ein bißchen schwer, hatte sich doch in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft etwas wie Freundschaft entwickelt. Zu gerne wüßte ich, was aus ihr geworden ist. Ob sie wieder zurück nach Petersburg gezogen ist, oder ob sie noch in unserer alten Heimat wohnt? Vielleicht lebt sie auch nicht mehr, denn es sind 55 Jahre ins Land gegangen.
Auf einer unserer ersten Reisen in die Vergangenheit hörte ich von einigen Palmnickern, daß sie in dem schrecklichen Hungerwinter einige deutsche Frauen, die noch kleine Kinder hatten, mit Lebensmittel unterstützt hat, damit die Kleinen nicht verhungern mußten.

Es grüßt Euch nun

Eure Hanni Lenczewski




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