Heimat Bote Nr. 39


Großheidekrug
Erinnerungen eines Zehnjährigen (Fortsetzung)


Dee Harvst (Der Herbst)

In meinem vorangegangenen Bericht hatte ich schon de Kartoffelscharer Tiet (Kartoffelernte) angesprochen. Dabei habe ich allerdings nicht an das, für uns Kinder, größte Vergnügen gedacht. Das trockne Kartoffelkraut wurde mit breiten Holzharken zu größeren Haufen zusammen geharkt und dann abgebrannt. Der Qualm wurde vom Wind flach über den Acker geweht. Für uns war es ein höllisches Vergnügen, durch den dicken Qualm zu laufen, natürlich mit geschlossenen Augen. Es waren immer viele Kinder, Freunde und Verwandte, dabei. Natürlich kam es dabei auch zu heftigen Zusammenstößen, denn man mußte von der anderen Seite ja wieder zurück laufen. Man wurde vorsichtiger und machte dabei auch schon mal die Augen ein wenig auf. Das muß ein herrlicher Anblick gewesen sein, dee schwatte Poote (schmutzigen Hände), mit denen die Tränen aus den Augen gewischt wurden. Für mich das das Sinnbild eines richtigen Jungen.
In die letzte Glut wurden dann Kartoffel geworfen, die man hier und da noch auf dem Acker fand. Bei einer größeren Kartoffel konnte man die schwarz verkrustete Hülle aufbrechen und das innere der Kartoffel essen. Es schmeckte auch ohne Salz wunderbar.
Wenn ich denn heute so sehe, welch ausgeklügelte Drachen man kaufen kann, denke ich immer daran, wie wir uns mit dem Bauen eines solchen herum geplagt haben. Es wurden zwei möglichst gerade Äste gesucht, mit Sackband zu einem Kreuz gebunden und rundherum bespannt. Festes Packpapier war Mangelware. Für eine Schnur mußte oft das Sackband herhalten, und Kleber wurde aus Mehl angerührt, wozu wir dann unsere Eltern bemühen mußten. Dann ging es los aufs Stoppelfeld. Der Drachen schoß kopskiekel, also den Schwanz schwerer machen; dann kam er nicht mehr hoch. Gras wieder abnehmen, machte er den kopskiekel nicht nach rechts? Also Gras an der linken Seite des Drachen anbinden. Nein es klappte so und so nicht. Mein Jott, had wie dem Kopp voll!


Halloween

Soll aus Amerika zu uns gekommen sein? Ich erinnere mich aber an die ausgehöhlten Kürbisse mit flackernden Kerzen und den fürchterlichen Fratzen, wenn in Großheidekrug im Spätherbst die Abende länger wurden. Aus den Erzählungen meiner Eltern weiß ich auch, daß die Lorbasse im Dorf mit den Kürbisköpfen und wehenden Gewändern, Kinder und Erwachsene gern erschreckt haben und allerhand Jokus getrieben haben. wat es blo)ß los Voader, et wadtje hiede joanich hell. Hatten sie doch den alten Leuten die Fenster mit Teer zu gemalt! Es war doch ein sehr lebendiges Dorf oder?


Dee Winter

An einen Winter in Großheidekrug ohne Schnee und Eis kann ich mich nicht erinnern. Meinen Spielgefährten Willi Mollenhauer, sehe ich noch mit seinem Hund vor dem Schlitten, an uns vorbeifahren. Rodelberge kannte ich zunächst noch nicht. Ich habe daher vor unserer Haustür, den Schnee des Hofes zu einem Haufen zusammen getragen und mir eine Rodelbahn selbst gebaut. Abends mußt du da Wasser rauf gießen, dann wird sie über Nacht schön glatt, sagte mir mein Bruder. Tatsächlich, es stimmte, aber ich konnte nicht einmal auf den Hügel rauf kommen, es war zu glatt. Im Winter darauf hatte ich Großheidekrug schon etwas besser erkundet und Petersch Barch (Berg) entdeckt. Ich denke daß er auf dem Grundstück der Familie Peters war. Jedenfalls war dies in Zukunft mein Rodelberg. Man bekam schon eine schöne Geschwindigkeit drauf. Aber am besten waren die zwei Wellen, die unterhalb aus Eis vom Haffwasser zusammen geschoben waren. Man machte zwei fürchterliche Sätze mit dem Schlitten und glitt dann weiter ein Stückchen auf das Kleine Haff.
Bei uns Kindern ging das sehr gut, aber bei den kleineren gab es doch oft Tränen, und die älteren brachten, wegen des Gewichts, oft einen kaputten Schlitten nach Hause. War es im Winter 1943/44 oder im letzten Winter? Ich meine im letzten war ich enttäuscht, weil der Wind nie aus der richtigen Richtung kam. Bleiben wir beim Winter 43/44. Es herrschte ein starker Südsturm, also grob aus Richtung Brandenburg. Es waren Eissegler auf dem Haff, die Segel waren aber Kartoffelsäcke. Wir Kinder, natürlich sehr gelehrig, liefen schnell nach Hause und holten uns einen Besenstiel und eine Latte, die wir zu einem T zusammen fügten und stülpten einen Kartoffelsack darüber. Mast und Segel hatten wir.
Jetzt den Schlitten und los zum kleinen Haff. Auf dem glatten Eis war es bei dem Sturm schwer, uns bis zur Rinne (Fahrrinne für Schiffe zwischen Pillau und Königsberg, die laufend von einem Eisbrecher freigehalten wurde) durch zu schlagen. Dann wurde der Schlitten in Position gebracht, der Mast aufgerichtet und zwischen die Beine geklemmt, der Kartoffelsack an den unteren Ecken festgehalten und los ging es. Solch eine Geschwindigkeit hatte ich noch nie erlebt. Zwischendurch machten wir aber auch eine kräftige Bauchlandung, denn der Schlitten ließ sich schlecht steuern, und wir konnten nicht an einem Eisblock vorbei kommen, über den wir mit einer Schlittenkufe sausten.
Diese Eisblöcke waren ein Produkt aus der Eisfischerei. Ich bin einmal dabei gewesen, habe aber den genaueren Hergang noch nicht richtig verstanden. Für die Eisfischerei hatte mein Vater einen speziellen Schlitten, auf den Netze und Zubehör gepackt wurden. Dann wurden die beiden Pferde (der Braune und der Große) davor gespannt und los ging es über das Kleine Haff und auch über die Rinne. Mein Vater wußte, wann der letzte Eisbrecher durchgefahren war, und je nach Stärke des Frostes konnte man schon etwa eine halbe Stunde danach mit Pferd und Schlitten rüber fahren.
Genau wie mit dem Überladen der Erntewagen, war auch das Überfahren der Rinne immer ein Risiko. Es sind dort einige Heidekrüger mit Pferd und Schlitten ertrunken, weil sie den Frost überschätzt hatten.
Zur Eisfischerei wurden mit einer Eissäge, in einem größeren Abstand, große Löcher in das Eis gesägt und die Platten neben das Loch gelegt (damit Kinder mit dem Schlitten drüber fahren konnten!). dann wurden die Netze mit langen Stangen von Loch zu Loch unter das Eis geschoben. Vor die Netzreihe wurde in einem Loch ein ca.4 bis 6 Meter langes breites (Eichen?) Brett geschoben und anschließend darauf mit einem hölzernen Gegenstand geklopft. Diese Fischerei nannte mein Vater Bullern, richtiger "bullre"


Wienachte (Weihnachten)

Natürlich war für uns Kinder die Bescherung immer, wie auch heute noch, das Wichtigste zum Weihnachtsfest. Der Heiligabend begann mit dein Gang der ganzen Familie zur Kirche. Ich meine auch schon wir Kinder bekamen hier eine feierliche Stimmung. War unsere Kirche nicht schön? Der Altar aus Backstein gemauert, und links die Kanzel, das große Kreuz dahinter und hinter uns die schöne Orgel? Ich war immer fasziniert von den Orgelpfeifen aus blankem Messing von riesengroß bis klein und schlank.
Als wir Ende Februar 1945 wieder nach (Großheidekrug zurück kamen sah ich einige Orgelpfeifen au! dem Weg von der Kirche zur Hauptstraße liegen. Ich konnte es nicht begreifen, wie Menschen so eine Zerstörungswut entwickeln können, denn Großheidekrug war ohne Kampfhandlungen in russische Hände gefallen, es war am Abend des 31. Januar eine bedrückende Stille im Dorf, nur einzelne Gewehrschüsse und Rufe wie Stoy waren zu hören.
Der Weg von der Kirche nach Hause steigerte das feierliche Gefühl. Die Stille, nur der Schnee knirschte unter den Schuhen, die feierlich beleuchteten Fenster, ab und zu sah man auch etwas von einem bunten Tannenbaum. Zu Hause angekommen gab es Abendbrot. Nichts festliches aber traditionell Grupp, ich weiß nicht ob jemand dieses Gericht kennt? Es handelte sich nach meiner Kenntnis um gequollene Graupen mit Blut, eine Masse wie Grützwurst. Schwarzsauer habe ich nicht gegessen, aber dieses Gericht schmeckte mir. Und dann war es endlich so weit: die Bescherung.
Die Tür zum Wohnzimmer der Eltern wurde geöffnet, und da stand der herrliche Tannenbaum, den wir vorher nicht sehen durften. Die Qual des Wartens war aber noch nicht beendet. Jeder von uns Kindern mußte ein Gedicht aufsagen, dann wurden ein paar Weihnachtslieder gesungen die oftmals aber auch mit Gelächter endeten, weil einer meiner Brüder (ich will hier keinen Namen nennen) so herrlich falsch sang. Ich war es nicht, denn ich durfte in der Schule die zweite Stimme singen.
Dann endlich war Bescherung. Jeder der Kinder bekam seinen eigenen bunten Teller. Ansonsten waren die Geschenke nicht sehr reichlich. Die einzigen Sachen, an die ich mich erinnere, waren ein schönes Dreirad und 1944 nicht Zinn, sondern Bleisoldaten. Ende Februar 45 stand mein Dreirad, das noch neuwertig war, zusammengequetscht mitten auf dem Hof, und die Bleisoldaten waren bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht.
Nach Weihnachten begann wieder eine unruhige Zeit oder spielte sich das ganze Spektakel nur zu Sylvester ab? Oder war es am Neujahrstag? Es hieß der Neujahrsbock geht um. Vor der Tür hörte man singen, und die ganze Gruppe sang im Hausflur weiter. Es waren fürchterliche Gestalten, mit Ruß bemalt und mit Lumpen verkleidet.


Helmut Holstein



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