Heimat Bote Nr. 39


Letzte Weihnachten in Widitten

Weihnachten 1944 bekam ich Urlaub. Am Heiligabend kam ich am Bahnhof Powayen an. Von dort rief ich Frau Wenk an und bat sie, heimlich ein Fuhrwerk zur Bahn zu schicken und saß nach einer halben Stunde schon im Schlitten, der mich mit Schellengeläut nach Widitten brachte. Bald darauf konnte ich mich in der warmen Gaststube an einem frischen Schweinebraten stärken. Währenddessen holte Frau Wenk allerhand Utensilien herbei, die ein Weihnachtsmann zur Ausstaffierung braucht. Die Geschenke wurden in einen Rucksack verstaut, und dann führte sie den Weihnachtsmann über die Straße in unsere Wohnung. Sie selbst blieb beobachtend draußen am Fenster stehen.
Ich klopfte an die Haustür, und meine Frau öffnete verwundert wegen des späten Besuches. Sie erschrak und kreischte auf, ich aber ging schnurstracks vorbei in die Wohnstube und sah mich dort um, als suche ich Kinder. "Wer mochte das sein? fragte sich meine Frau." "Vielleicht einer von den fremden Soldaten, der den Kindern in Abwesenheit des Vaters eine Freude machen wollte?" Die Stiefel deuteten darauf hin.
Am Tisch saß mein Sohn, der für die Feiertage Urlaub bekommen hatte von Heidemaulen, jenseits des Haffes, wo er Flakhelfer war. "Was schreibt denn der junge Mann?" brummte der Weihnachtsmann. "Aha, einen Brief an seinen Bruder. Sehr schön!" Als Hellmut sich erheben wollte, drückte ich ihn auf den Stuhl zurück und langte eine Handvoll Süßigkeiten aus dem Rucksack: Schokolade und Bonbons, seltene Dinge in dieser bitteren Zeit. Die zwölfjährige Ilse erhielt noch mehr, auch ein kleines Flüchtlingsmädchen aus der oberen Wohnung erhielt seinen Teil.
Als ich meine Frau in den Arm nehmen wollte, wich sie lachend zurück, und als ich ihr folgte, gelang es ihr, mir die Maske vom Gesicht zu reißen. Da stieß sie einen lauten Schrei aus und fiel mir lachend um den Hals. So kam es, daß das kleine Flüchtlingsmädchen die Treppe hinauflief und ihrer Mutter zurief: "Die Frau Lehrer küßt den fremden Weihnachtsmann."
So fröhlich der Weihnachtsabend bei uns verlief, so bedrückt waren wir in den nächsten Tagen durch die Rundfunkmeldungen. Zwar siegte Goebbels immer noch, aber die Russen standen in Ostpreußen. Zwischen Weihnachten und Neujahr packte ich viele Dinge, die für mich wertvoll waren, und schickte sie zu meinen Verwandten nach Urbach am Harz, meiner Geburtsheimat. Die Postpakete sind alle angekommen, auch die Unterlagen für dieses Buch.
Meine Frau hat sie dann, als die Russen die Zonengrenze besetzten, in sechzehn gewagten Grenzübertritten bei Nacht auf dem Rücken in die Westzone gebracht. Die Pakete aber, die mit der Bahn verschickt wurden, sind alle verloren gegangen. Beim Einmarsch der Russen sollen die Schuppen des Güterbahnhofs in Königsberg bis unter die Decke mit Paketen vollgepfropft gewesen sein.
Als der Urlaub Anfang Januar 1945 zu Ende war, war der Abschied schwerer als die bisherigen. In den Schränken und Regalen standen etwa 2000 Bücher, von denen ich ein Drittel noch nicht gelesen hatte. Da stand der sechsunddreißigbändige Goethe, den ich mir für die Zeit nach dem Kriege aufgespart hatte, ebenso Schiller, aber auch die anderen Klassiker, die ich schon gründlich studiert hatte: Hebbel, Uhland, Mörike, Kleist u.a. Daneben warteten die zehn riesigen Bände von Brehms Tierleben, dann die wunderbaren Hieltscherbände mit Fotos aus aller Herren Länder, die immer wieder die Sehnsucht nach der weiten Welt weckten und viele andre Freunde aus der literarischen Umwelt. Auf dem Schrank lagen die alte Schulgeige und zwei andere, die ich für meine Söhne gekauft hatte. In der Ecke stand das Harmonium, auf dem wir die Lieder zu den Bibelstunden gespielt hatten. Einige Wochen später landete es auf einem Misthaufen in der Nachbarschaft, weil die Russen nichts mit ihm anzufangen wußten.
Auf meiner Abschiedsrunde wanderte ich noch einmal durch den Obstgarten mit den beiden hohen Linden. Im neuen Schulgarten sahen die Beete der Kinder jetzt im Schnee wie Gräberreihen aus. An der Obstbaumallee vorbei, die die Kinder für sich angelegt hatten, stieg ich die Treppe mit dem schwingenden Möwenmuster im Geländer hinauf zur neuen Schule mit den beiden steinernen Kinderköpfen über der Eingangstür. Im Flur mit den Kinderbildern auf den Türen von Vögeln, Tieren und Blumen, vorbei am ziegelroten Trinkstrahlbrunnen ging ich in die Klassen mit den blanken Buchenbänken. Die behäbigen Kachelöfen standen tot da. Im Keller waren die Wasserrohre, der Boiler und die Radiatoren für die Heizung des Duschraumes zerfroren, weil man vergessen hatte, das Wasser bei dem starken Frost abzulassen. Das würde alles wieder in Gang kommen, wenn der Krieg zu Ende sein würde.
Dann stieg ich zum Oberstock hinauf. Die Kochküche der Mädchen blitzte und blinkte; denn hier waltete die Vertreterin. Der Werkraum lag tot da, verstaubt und unberührt. Die kurz vor dem Kriege bestellte Hobelbank stand unausgepackt da, ebenso die elektrischen Apparate und die elektrische Drehbank. Die Werkzeuge ruhten wohlverschlossen in dem großen Wandschrank. Mit ihnen würden wir das, was wir bisher mit einfachen Behelfsmitteln für die Schulbriefsendungen geschaffen hatten, nach dem Kriege viel leichter herstellen, zur Freude der Partnerkinder in aller Welt.
Als ich dann am hohen Fenster stand und über das Dorf hin zum Walde und Wasser blickte, da kam mir zum Bewußtsein, wie glücklich ich hier gewesen war. Hier wollte ich wieder arbeiten. Die Russen würden wohl arg hausen, aber wir würden alles wieder zurechtbiegen.
Dann ging ich zur Nachbarin, der Witwe meines Freundes Hermann Wenk, der mich seinerzeit in Hemdsärmeln empfangen hatte, dann aber überall unterstützt hatte. Ich schilderte ihr schonungslos, was sie bei einer russischen Invasion zu erwarten hatte und nahm ihr das Versprechen ab, bei einer Flucht meine Frau und meine Tochter mitzunehmen. So fuhr ich etwas beruhigter zur Front nach Tschenstochau zurück.
Frau Wenk hat ihr Versprechen gehalten. Später sagte Sie: "Hätten Sie mir damals nicht so die Hölle ausgemalt, wenn die Russen kämen, dann wäre ich nicht gegangen; denn ich konnte mich fast nicht von meinem Grundstück trennen. Dann läge ich heute auch da, wo sie alle liegen, die damals dort geblieben sind, die Familie von Peter, der alte Lammert, der Groll, der Sonnenberg u.a. Daß ich fortgegangen bin, habe ich Ihnen zu danken, und damit sind wir quitt . ."

Willy Hanemann
(Aus "Widitten 1928 bis 1945 oder der Schulmeister erinnert sich")





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