Heimat Bote Nr. 39


"Oh, Tannenbaum! Oh, Tannenbaum!"

Als Waldtraut mich fragte, ob wir in diesem Jahr nicht auf einen Tannenbaum verzichten sollten, habe ich sie angesehen, als ob sie mir vorgeschlagen hätte, in Zukunft nicht mehr zu essen und zu schlafen. So lange ich denken kann, gehört der Tannenbaum zu Weihnachten, und so soll es auch nach 75 Jahren bleiben!
Was kommen da alles für Erinnerungen hoch, wenn ich an den Tannenbaum denke! Es sind nicht immer angenehme, aber ich möchte nicht auf sie verzichten. Was war das für eine Aufregung, als unsere Schwester Ilse im zarten Alter von eineinhalb Jahren sich vom geschmückten Weihnachtsbaum eine glänzende Kugel gepflückt und verspeist hatte! Dank einer klugen Ärztin litt sie keinen Schaden, nur die Kugeln wurden jetzt etwas höher gehängt.
Und das war gut möglich, denn in meiner Erinnerung war der Baum immer riesengroß. Er reichte fast bis zur Decke und wurde oben mit einer komischen Glasspitze gekrönt. Auch den anderen Schmuck unseres Weihnachtsbaumes sehe ich noch vor mir. Da gab es z.B. lange Schnüre, auf die immer abwechselnd ein Stückchen bunter Pappe und ein Stückchen Strohhalm aufgefädelt waren. Diese Girlanden hatte unser Vater mit den Schulkindern gebastelt, und sie sahen sehr hübsch aus.
Als ich etwas größer war, durfte ich mit unserem Vater mitgehen, wenn er den Baum aus dem Wald holte. Es ging auf dem Laukeweg, wie wir ihn nannten, in den Kobbelbuder Forst, und dort wurde sehr sorgfältig nach einer schönen Fichte gesucht. Unser Vater schüttelte den Schnee von den WeihnachtsbaumKandidaten und begutachtete sie von allen Seiten. Wenn die Entscheidung gefallen war, wurde die kleine Handsäge aus der Ledertasche geholt, die mein Vater trug, und der Baum war unser.
Ich weiß nicht mehr, wie wir zu unserem Baum kamen, als unser Vater zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Als ich dann selber Luftwaffenhelfer wurde, war es für mich selbstverständlich, daß wir auf unserer "Bude" einen Weihnachtsbaum brauchten. Wir lagen im Dezember 1943 mit einer FlakBatterie in Heidemaulen, einige Kilometer südlich von Königsberg. Ich überredete zwei Stubenkameraden, und am freien Sonntagnachmittag des vierten Advents marschierten wir zum nächsten Wald, wo wir bald ein schönes Bäumchen fanden. Es war etwas mühsam, ihn mit dem Taschenmesser zu fällen, aber schließlich konnten wir vergnügt mit unserer Beute Richtung Batterie ziehen.
Einer meiner Kameraden, der nicht mit Baumschleppen ausgelastet war, hatte entdeckt, daß es Spaß machte, mit einem trockenen Knüppel kräftig gegen einen Baum zu schlagen. Das überstehende Knüppelende brach dann ab und flog schwirrend durch den Wald. Leider ging das nicht ohne Krach, und plötzlich stand ein grün Uniformierter vor uns. Der Förster wurde streng dienstlich, denn wir hatten noch den abgeschnittenen Tannenbaum bei uns. Er nahm unsere Personalien auf und versicherte uns, daß er dafür sorgen würde, daß wir für den "Diebstahl" streng bestraft würden. Den Baum nahm er uns ab, und wir sahen noch, wie er ihn ins Gebüsch warf. Er meldete den Diebstahl wirklich der BatterieFührung. Wir hatten ein mulmiges Gefühl, als wir uns beim "Spieß" melden mußten. Der ließ sich den Vorfall schildern und meinte dann: "Man müßte euch wirklich bestrafen, weil ihr euch so blöd angestellt habt. Raus!"
In der Dämmerung sind wir dann zu zweit noch einmal in den Wald geschlichen und haben uns den Baum geholt, wir hatten ja gesehen, wohin ihn der Förster geworfen hatte.
Einen besonders schönen Tannenbaum hatten wir in Widitten Weihnachten 1944. Vermutlich hat ihn meine Erinnerung auch nur so verschönt und erhöht, weil ich zwei Wochen danach unsere alte Schule in Widitten verlassen habe und sie fast ein halbes Jahrhundert später erst wieder gesehen habe. Diese letzte Weihnacht in der Heimat, in der die ganze Familie, bis auf Bruder Siegfried, in unserer "guten" Stube, um den Tannenbaum versammelt war, ist mir viele Jahre als das Ende meiner "heilen Welt" erschienen.
Selbst der totale Zusammenbruch und die Flucht und die Not konnten dem Tannenbaum nichts anhaben. Er stand auch Weihnachten 1945 in unserer kümmerlich eingerichteten Flüchtlingswohnung in Sebexen und verkündete uns, daß das Leben weitergeht. Der Baum kam nicht mehr aus dem Kobbelbuder Forst, sondern aus dem Bauernwald auf dem Westerberg. Er war aber genauso schön und erfüllte seine Funktion.
Ein neues und besonders schönes Kapitel meiner Weihnachtsbaum-Erinnerungen begann mit dem ersten Baum, den Waldtraut und ich in unserer kleinen Dachkammerwohnung in Lauenburg aufstellten. Das ist auch der Grund dafür, daß ich mir viele Jahre den Baum aus der Lauenberger Umgebung geholt habe, auch als wir gar nicht mehr dort wohnten. Der Baumschmuck war zum großen Teil selbst aus Stroh und anderen Materialien gebastelt und für heutige Maßstäbe recht bescheiden. Uns erschien er aber wunderschön. Und als dann nach und nach die Kinder kamen, und sich die Kerzen schließlich in vier Kinderaugenpaaren spiegelten! So etwas kann man doch nicht vergessen
Der Baum 2001 steht schon wunderschön geschmückt in der Stube, weckt Erinnerungen und wartet auf Kinder und Enkel!

Einbeck, 23. Dezember 2001

Hellmut Hanemann





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