Heimat Bote Nr. 41


Unsere Erlebnisse in Ostpreußen

von Januar 1945 bis Oktober 1947
Von den Kindern Kähler (Marschenen.) erzählt.
Kähler war der Schwiegersohn des Bauern Gritzan,
mit Tochter Trude (Gertrud) verheiratet.


Unser kleines Dorf Marschenen, im Samland, Ostpreußen, an der Hauptstraße Königsberg-Pillau, war eines der schlimmsten Kampfgebiete des Samlandes. Es war auch die Zufahrtstraße nach Königsberg, um die der Russe wochenlang kämpfte, da er einmal zurückgeworfen wurde, so wurde der zweite Ansturm um so stärker. Unser Haus war schon wochenlang voll von Flüchtlingen, so daß wir schon lange ein äußerst unbequemes Wohnen hatten. Der Zustrom von Flüchtlingen wurde immer schlimmer, und alles suchte Rettung zu finden in Pillau, um noch mit dem Schiff herauszukommen.
Der Winter war sehr kalt, das Frische Haff war zugefroren. Da die Straßen so voll waren, flüchteten Tausende auf dem Haff nach Pillau zu, in der Hoffnung, dort noch mit einem Dampfer fortzukommen. Aber auch hier warteten Tausende auf Abtransport über See und kamen doch nicht alle fort, der Russe bombardierte sogar das Eis, so daß Tausende den Tod fanden unter dem Eis des Frischen Haffes. Unser Bemühen, fortzukommen war vergebens, so mußten wir bleiben bis zuletzt.
Am 3. Februar 1945 brach der Russe in unser Dorf ein. Unser Opa hatte einen Wagen fertiggemacht mit den nötigsten Sachen die man zu einer Flucht brauchte. Das Vieh lief schon frei umher, wurde erschossen oder kam vor Kälte um. Sobald der Russe in die Wohnung kam, begann die erste Plünderung nach Uhren, Ringen und Goldsachen. Hatte man nichts, so wurde man geschlagen. Als wir aus dem Keller herauskamen, sah die Wohnung wie ein wüster Haufe aus. Alles war durchwühlt, zertreten und entzwei gemacht. Wir wurden sofort vom Hof vertrieben und mit vielen anderen immer dort hingesandt, wo die Front wütete. Unser Aufenthalt war nun vierzehn Tage lang der Wald, es wurde immer hin und her gefahren. Aber schon nach ein paar Tagen nahm man uns das beste Pferd fort und alles, was dem Russen noch an Kleidung gefiel. Wir Kinder hatten dreifache Kleidung an, um noch etwas zu retten. Unsere liebe Mutter hatte zum Beispiel fünf Kleider an, als wir losfuhren, aber es dauerte nicht zu lange, so hatte sie nur zwei Kleider an.
Von den Grausamkeiten des Kampfes, der in den Wäldern vor Königsberg getobt hatte, möchte ich nichts schildern. Der Satz, den man überall angeschrieben hatte: "Denkt an das Blutbad in Metgethen", er genügt, um das Geschehene in Erinnerung zu rufen. Nachdem wir nun 22 Tage so hin und her getrieben wurden, aus einem Feuer heraus ins andere hinein, kamen wir in die Nähe von Tapiau an. Es wäre dies sonst eine Tagereise gewesen. Mit zwei Pferden fuhren wir los. doch nach einigen Tagen hatten wir keines mehr. Unser Hab und Gut reichte nun aus für den Handwagen, den wir mitgenommen hatten.
Nach einigen Tagen, als man uns das erste Pferd wegnahm, trafen sich die beiden Pferde im Vorbeifahren. Sie liefen beide zueinander und wollten nicht mehr alleine weitergehen. So wurden wir dann in einem Lager unweit Tapiau untergebracht. Unsern Opa, der ein offenes Beinleiden hatte und schon über 70 Jahre alt war, nahm uns der Russe noch fort. Man zog ihm auch seine Stiefel aus und gab ihm etwas, womit er gar nicht laufen konnte. Nach einigen Wochen trafen wir ihn wieder hier im Lager bei Tapiau. Er war aber so entkräftet, daß er bald starb, und wir begruben ihn in einem Obstgarten eines Gutes; der Name ist uns leider entfallen. Hier im Lager war eine große Baracke, wo immer wieder Transporte zusammengestellt wurden, um weiter nach Rußland zu fahren. Wir waren dreimal auch dabei, sind aber nicht fortgekommen.
Einmal war Mutter krank, so daß sie nicht weiter konnte, das zweite Mal war ich mit zehn Jahren krank und elend geworden. Zum dritten Mal konnte unsere Oma nicht weiter, da sie ein offenes Beinleiden hatte. Wir hielten uns so zusammen, daß man uns nicht trennen konnte. So wurden wir davor bewahrt, verschleppt zu werden. Aber die Transporte, die fortgingen, waren zum Teil jüngere Menschen und Kinder.
Hier in diesem Lager blieben wir sechs Wochen, und manche Schläge mußte Mutti erdulden, weil sie versuchte, uns zu ernähren und zu bekleiden. Wir wurden hier verpflegt nach russischem Muster mit Kartoffelsuppe. Es waren lange sechs Wochen, wo man nicht wußte, was unserer noch wartete. Der Russe handelte nach seiner Willkür, und Frauen und Mütter waren in seinen Augen Sklaven.
Nach sechs Wochen wanderten wir nun wieder zurück nach Königsberg mit unserm Handwagen und der Oma mit ihrem Beinleiden wanderten wir nun los. Trotzdem wir schon nichts mehr hatten, wurden wir unterwegs immer wieder ausgeplündert. Das Land sah schrecklich aus, alles in Trümmern und verwüstet. Als wir kurz von Königsberg waren , bei dem Gut Dr. Lauth, durften wir nicht mehr weiter, da man nicht zur Stadt herein durfte. Hier auf dem Gut mußte Mutti und Tante Frieda arbeiten. Der Russe schoß noch Tante Frieda bei dieser Gelegenheit ins Bein, so daß sie einen Steckschuß hatte.
Um den 15. Mai herum durften wir nach Königsberg hinein. Es galt aber manche Schwierigkeit zu überwinden, ehe man zur Stadt hinein konnte. Die Stadt war in einem trostlosen Zustand. Eine Brücke war nur heile, die über den Pregel führte, wo sonst fünf waren. Keine Wasserleitung, die Abwässer verstopft. Die Bevölkerung benutzte stehendes Wasser aus den Teichen. Wie viele Leute nach den Kampfhandlungen starben, läßt sich nicht beschreiben.
Unsere Kleidung, die wir anhatten, wurde immer weniger, man suchte dann die Trümmer ab und fand immer noch etwas zum Anziehen. Die guten Wohnungen bewohnte der Russe. Unsere Behausung waren die Trümmer–Wohnungen. So blieben wir bis zum 24. Juni in KönigsbergJuditten. In der Stadt spielten sich furchtbare Dinge ab, die schon hin und wieder beschrieben wurden. Wir lebten von dem, was man unter den Trümmern fand, so waren wir Kinder unermüdlich dabei, die Trümmer zu durchsuchen.
Dann kam der Befehl, daß jeder dort hin sollte, wo er sonst gewohnt hatte. So ging es dann am 25. Juni wieder zurück nach unserem Dörfchen Marschenen, im Samland. Aber welch ein Bild trat uns entgegen. Der Wald von Moditten bis Großheidekrug war abgebrannt und verwüstet, und was noch hier und dort stand, wurde noch abgehauen. Je näher man der Heimat kam, je wüster wurde es. In unserem Ort waren nur zwei Häuser stehengeblieben. Unser Grundstück war ein Trümmerhaufen. In der engsten Heimat begann nun ein armseliges Leben. Die Türen mußten offen bleiben bei Tag und Nacht, damit der Russe immer Zutritt hatte. Da wir nun keine Nacht sicher waren, so haben wir immer mit Kleidung geschlafen. Die Plünderungen und die Lebensmittelnot nahm zu.
Die Ernte, die noch auf dem Felde war, mußte hereingebracht werden und auf große Haufen gefahren, aber die Getreideberge durften oben nicht zugedeckt werden, es mußte oben hereinregnen, und keiner durfte etwas davon gebrauchen. Wer dabei erwischt wurde, wurde erschossen.
Aber die Not macht erfinderisch, und die Menschen gingen, wie man sagt, über Leichen. Es war so, wenn man etwas haben wollte, so mußte man schon darauf liegen. Trotz aller Strenge aber wurde des Nachts Getreide geholt und Brot gebacken, denn zum Kaufen gab es nichts. Unsere Mutti hatte auf der Kaffeemühle Korn gemahlen und zwei Brote gebacken von acht bis zehn Pfund. Als sie gerade das Brot aus dem Ofen zieht, kommt der Russe und nimmt beide Brote mit. Uns standen allen die Tränen in den Augen, aber man durfte nicht einmal sich etwas merken lassen. So war unsere Freude wieder vergebens.
Als dann die Berge naß und faul waren, kamen die Russen mit Flammenwerfern und steckten alles in Brand. Was man dann alles als Nahrungsmittel verwendete, das hätte man früher nicht geglaubt. Die Kampfgebiete lagen noch immer so, wie sie der Russe verlassen hatte. Viel elternlose Kinder wühlten auf den Feldern umher und suchten sich Nahrung.
Die elternlosen Kinder holten sich auf diese Weise manche ansteckende Krankheit, so daß auch viele daran starben. Der Sommer brachte auch manche Krankheiten mit sich, ohne das einer dem andern helfen konnte. Die Plünderungen und nächtlichen Besuche der Russen nahmen zu. Gar manches Mal holten sie Mutti heraus. Sie verstand es aber, uns Kinder zu bewahren vor manchen Taten der Russen. Wenn Mutti dann morgens freigelassen wurde, so sagte sie uns, weil sie Kartoffeln oder sonst etwas geholt hatte, mußte sie zur Strafe eingesperrt sein. So hatten wir in dieser Weise doch manchen Besuch der Russen.
Unser Nachtlager war manchmal gut, wenn wir uns etwas zusammengeholt hatten. Sobald aber die russischen Familien es merkten, daß wir etwas hatten, holten sie es uns wieder fort.
Der Russe hatte schon Soldaten mit Familien hier angesiedelt. So mußten wir dann immer mit der Kleidung schlafen gehen. So wurde es Herbst und auch Weihnachten 1945,. ohne daß einer dem andern helfen konnte. Unser Weihnachten war so armselig, aber dennoch sang unsere Mutti mit uns die Weihnachtslieder und munterte uns auf, wir werden nochmals nach Deutschland kommen, denn hier war es Sowjetrußland.
Von den Feldern der Russen hatten wir Zuckerrüben geholt, davon hatte Mutti Suppe gekocht und mit der Kaffeemühle Mehl gemahlen. So gab es denn einen Kuchen. Die Weihnachtstage verlebten wir ohne Störungen. Bis März 1946 durften wir nun in unserm Heimatdörfchen bleiben.
Dann ging es drei Kilometer weiter nach dem nächsten Dorf Zimmerbude. Dort gestaltete sich unser Leben für kurze Zeit erträglicher.. Wir konnten zunächst in eine heile Wohnung ziehen, das war für uns schon eine große Freude. Wir besaßen nun zwei Zimmer und waren drei Kinder, Mutti, Oma, Tante und ein 16jährige Junge, der allein war, ohne Eltern und Verwandte. Derselbe mußte für die Russen Fische fangen auf dem Frischen Haff. So erhielten wir auf diese Weise auch mal Fisch für unseren Bedarf. Ich war zehn Jahre alt und fuhr auch einmal mit zum Fischfang. Man blieb dann zwei bis drei Tage auf dem Wasser, und in dieser Zeit lebte man von Fischen. So geschah es dann, daß ich die fetten Aale nicht vertragen konnte und gab es wieder den Fischen als Futter. Als Bezahlung erhielt der Junge einige Fische, die uns dann für ein halbes Jahr gut taten. Sonst wurde jede Arbeit umsonst geleistet.
Damit war die gute Zeit nach einem halben Jahr zu Ende. Die Wohnungen waren für uns zu schade, wir mußten wieder heraus und in alle Trümmer wieder hineinziehen. Es war nun diesmal unsere alte Schule in Widitten, in deren Trümmern wir nun hausten. Dann war der Herbst 1946 da. Die Felder, die für den Russen bebaut waren, wurden geerntet nach russischer Art.
Die Kartoffeln wurden auf riesige Haufen geworfen und mit Erde beworfen, so daß sie zu Weihnachten alle faul waren, und dann wurden sie verteilt auch an die russische Bevölkerung. Sie waren nur für Düngemittel gut, und doch wurden sie ausgeteilt. Hier begann die Notzeit wieder für uns. Keine Arbeit, keine Lebensmittel, kein Licht im Winter. Die Not wurde von Tag zu Tag größer, und Mutti wußte nicht, wie sie uns satt machen sollte.
Mit vielen anderen Jungen suchte ich immer wieder die Trümmer ab nach brauchbaren Gegenständen, um sie nachher in Königsberg zu verkaufen. Aber nach Königsberg hinzukommen war nur möglich mit russischen Militärautos. Aber auch die Fahrt mußten wir in Rubel bezahlen, die erst in Königsberg erworben wurden. Es war auch jedes Mal eine Fahrt von 16 Kilometern, hin und auch zurück. Bei diesen Fahrten, die wir mit zehn bis fünfzehn Jungen machten, erlebten wir so manches, und mit der Zeit hatten wir schon manchen Trick heraus, wie wir mit den Russen umgehen konnten, um auch das Fahrgeld ihnen zu kürzen. Für unsere Mühe erhielten wir sowieso nicht viel. Wir hatten es bald heraus , daß die Russe nicht rechnen konnten, wir aber um so besser. Wir hatten uns schnell die russische Sprache angelernt, so daß wir uns auf dem schwarze Markt schon gut helfen konnten. Gar manches konnte man hier erleben. Es wurde einem manchmal alles weggenommen, was man zusammen gehandelt hatte, oft auch mal verprügelt oder eingesperrt im Keller. Aber man lernte schon früh das Sprichwort kennen: "Not bricht Eisen", oder auch: "Not macht erfinderisch".
Für meine Habseligkeiten hatte ich Rindertalg, eine Tüte mit Graupen und 200 Gramm Grütze. Am späten Abend kam ich nach Hause mit großer Freude, doch etwas Brauchbares für Mutti heimzubringen. Unsere liebe Mutti machte von dem Rindertalg eine Kerze für den Weihnachtsbaum. Nichts war auf dem Baume als nur die eine selbst gefertigte Kerze, und dennoch feierten wir Weihnachten. Wir sangen mit Mutti, Oma und Tante dennoch die Weihnachtslieder wie sonst auch.
Der Winter mit seinem Hunger und Kälte forderte enorm viele Todesopfer. Die Menschen starben zu Hunderten dahin, daß einer dem andern nicht helfen konnte. So wie sie starben, wurden sie weggeholt, in Säcke gewickelt und aufgestapelt, bis man Massengräber machte, wo aber niemand der Angehörigen dabei sein durfte. Die Bestattungen der Massen mußten Frauen vollbringen.
Im Januar 1947 wurden dann Frauen zu den schwersten Arbeiten herangezogen. Unsere Mutti mußte mit andern Frauen Langholz aus dem Walde fahren. Was sonst nur Männerarbeit war, mußte von schwachen Frauen gemacht werden. Für diese schwere Arbeit erhielt sie nur eine Lebensmittelkarte, weil ja nichts da war. Ja, der Russen war so gemein, wenn die Frauen mal einen Tag nicht arbeiten konnten, wurde die Lebensmittelkarte für den ganzen Monat entzogen.. Hätten sich nicht Männer eingesetzt für Mutti, so wäre das bei ihr oft passiert, denn ihre Körperkräfte nahmen schnell ab.
Nun kam eine russische Marineabteilung in die kleine Ortschaft, und wir mußten auch von hier wieder heraus und mußten nach Großheidekrug. Diese Ortschaft war auch total zerstört, und es blieben uns nichts als elende Hütten als Wohnraum übrig. Dazu hatten hier viele ansteckende Krankheiten geherrscht, und in der Behausung, wo wir rein mußten, waren alle Leute schon gestorben.
Die Lebensmittelversorgung wurde immer schlimmer. Wenn man für einen ganzen Monat drei bis vier Tagesrationen erhielt, war man froh. Wenn die russischen Zivilisten hörten, daß irgendwo Lebensmittel zu finden waren, holten sie sie noch ab. In dieser Behausung sah man, wie Muttis Kräfte immer mehr abnahmen und sie die schwere Arbeit nicht mehr leisten konnte. Aber trotz allem sang sie uns noch oft ein Lied vor und tröstete mit ihrem frohen Mut noch viele andere Leute. Sie hatte einen Glauben und starkes Gottvertrauen in ihrem Herzen, und die Gabe des Gesanges war ihr ein und alles.
Eines beseelte ihr Herz; uns Kinder am Leben zu erhalten, denn wir hatten auf wunderbare Weise einen Brief vom Papa erhalten, daß er glücklich aus der Gefangenschaft heimgekehrt war und in Goslar, Harz weilte. Sie tröstete uns oft mit dem Glauben: "Wir kommen noch mal zum Papa." Ihre Kräfte aber nahmen immer mehr ab, und trotzdem ging sie zur Arbeit um unseretwillen. Am 2. März kam sie krank nach Hause, legte sich auf ihr Lager und sagte kein Wort mehr. Sie lag still, ohne ein Wort der Klage, auch ohne etwas zu Essen auf ihrem Lager. Meine Schwester Helga, sieben Jahre alt, machte nur ihre Lippen laufend naß.
Am Morgen des 4. März 1947 sahen wir noch mal nach Mutti; sie war tot, ohne daß sie ein Wort mit uns hat sprechen können. Unsere liebe Oma, als sie sah, daß Mutti nicht mehr lebte, drehte sich zur Seite, sagte auch kein Wort mehr und war am Morgen des 5. März auch heimgegangen. Wir Kinder und auch alle andern Leute konnten nicht mehr weinen, auch nicht mehr lachen. Jede Träne hatte der Russe uns geraubt, alle inneren Gefühle waren abgestumpft im täglichen Anblick des Geschehens.
Dann kamen Frauen, zogen Mutti aus, wickelten sie in eine Sackleinwand und stapelten sie auf dem Friedhof auf, bis etwa 100 Tote zusammen waren. Da nun der Friedhof inmitten des Dorfes lag, so lagen die aufgestapelten Leichen für jedermann zur Ansicht da. Ein uns sehr bekannter Mann aus Großheidekrug, mit Namen Klement, war nun des allen Zeuge. Ende März mußten Frauen ein Massengrab schaufeln, und er war als einziger Mann bei der Massenbeerdigung dabei und hat, soweit er die Leute mit Namen kannte, sie festgehalten.
Von den vielen Toten durfte niemand der Angehörigen dabei sein. So waren wir drei Kinder nun allein, und es war auch nicht möglich, daß einer dem andern helfen konnte. Wir hatten wohl unsere Tante Frieda noch bei uns, doch dieselbe hatte soviel gelitten, daß sie nicht mehr fähig war, uns zu betreuen. Ihr Geisteszustand war so, daß wir nicht mehr mit ihr fertig wurden. Sie wollte doch gern für uns sorgen und wollte uns doch gern ernähren.
Am 22. März 1947 hatte sie vor, ihr letztes Kleid zu verkaufen, jedoch es gelang ihr nicht mehr. Eine Frau fand sie am Rande des Waldes tot liegen. Sie kam sofort zu Herrn Klement gelaufen, er möchte doch mal schnell mitkommen und sehen, ob es nicht Frieda Grizan sei. Innerhalb von 20 Minuten waren sie an der Stelle und fanden sie tot liegen, mit einer Schlagwunde am Kopf und ausgezogen und ihrer Kleidung beraubt. Wie dieses geschah, ist unbekannt, nur hat man eine Frau gesehen mit Tante Friedas Mantel.
Doch nach drei Tagen lag diese Frau auch tot an der Stelle, wo Tante Frieda gelegen hatte. Auch hierüber kann man nichts sagen, wie dieser Todesfall eingetreten ist. Wir waren nun drei Kinder, elf, acht und fünf Jahre alt und waren allein für uns. Keiner wagte dem Nächsten zu helfen, da es nicht mal möglich war, für sich selbst zu sorgen. Die bittere Not hatte uns hart und fest gemacht, aber unsere liebe Mutti hat uns doch auch Beten und Vertrauen gelehrt.
So waren wir fünf Tage ganz allein. In diesen fünf Tagen fand ein alter Mann namens Radtke keine innere Ruhe. Sein Gewisssen sagte ihm immer wieder, hol die drei Waisenkinder zu dir, denn es ist meine Dankesschuld an die Kinder. Der alte Mann war ein äußerst starker Raucher und war sterbenskrank, als er nichts zu rauchen hatte. Helga, meine Schwester, lief die Straßen auf und ab und sammelte Kippen von den Russen und half ihm soweit über seine schwerste Krankheit hinweg. Aus Dankbarkeit kam er und holte uns nun zu sich. Sie sorgten für uns, und wir sorgten für die alten Leute, unser und auch ihr Leben zu erhalten.
Das Jahr 1947 war ein äußerstes Notjahr, denn Brot war uns etwas Unbekanntes geworden. Um uns zu ernähren, sammelten wir nun alles, was die Natur uns gab, angefangen von der Brennessel, Sauerampfer, wilde Melde und alle Früchte, die uns die Jahreszeit und auch der Wald bot. Unermüdlich sammelten wir, auch der fünfjährige Bruder mußte mit, wenn wir von Schwäche auch manchmal zusammenbrachen, so hatten wir uns nun von 1945 bis 1947 doch schon sehr viel aus der russischen Sprache angelernt, so daß es uns ein leichtes war, uns auch bei dem Russen durchzusetzen. Wenn wir nun etwas Eßbares zusammen hatten, so fuhren wir so etwa zehn bis fünfzehn Jungen mit russischen Militärautos nach Königsberg zum Markt. Aber wir deutschen Jungen verstanden es bald, mit den Russen umzugehen. Insbesondere merkten wir Jungen, daß die Schulbildung der Russen nicht weit her war, so haben wir oft billige Fahrt gehabt, indem wir ihnen weniger gaben, als sie verlangten, bis er dann sein Geld nachzählte, waren wir Jungen schon in voller Fahrt runtergesprungen.
In Königsberg auf dem Markt machten wir aber viele Erlebnisse. Oft kam es vor, daß, als man einige Rubel zusammen hatte, verprügelt wurde, oder auch im Keller eingesperrt und des Geldes beraubt wurde. Russische Frauen versuchten uns oft zu betrügen mit dem Gelde. Sie hatten sich aber getäuscht, denn die Jungen konnten besser rechnen als die dachten. Was wir hier auf dem Markt alles als Kind geleistet hatten, kommt mir heute erst recht zum Bewußtsein, Bittere Tränen habe ich einmal vergossen, als man mir alles fort nahm, was uns tagelange Mühe und Fleiß gekostet hatte. Als ich einmal schöne Pilze verkaufte, wollte eine Russenfrau mich auch betrügen. So nahm ich ihr die Pilze weg, schüttete sie in meinen Korb zurück und warf ihr die Schüssel vor die Füße, daß sie zerbrach. So verschafften wir uns oft Respekt. Von diesem Handel habe ich meine Geschwister unterhalten. Es wurde alles gesammelt, was die Jahreszeit uns bot bis Ostern 1947, sogar die sonst ungeachteten Moosbeeren wurden gesammelt. Aber das Sammeln war für unsere ausgehungerten Körper nicht leicht. Allerlei Erlebnisse haben wir auch hier gemacht.
Mit unserm Handwagen und Körben ging`s in den Wald. Wir fanden solch eine Menge Pilze, daß wir alle Körbe voll hatten. Nun aber nach Hause fahren, das war ein Problem. Die Wege waren sandig, und die Kraft erlahmte, aber die Pilze hätten wir doch gern behalten. Wir versuchten es und kamen nur meterweise fort. Wir wollten schon weinen, aber dann rechneten wir schnell aus, was wir dabei verdienen konnten. Wir ruhten uns aus, doch der Wagen blieb so schwer. In all unserer Not hörten wir jemand kommen. Es war ein Russe, der mit dem Karabiner durch den Wald streifte. So fand er uns drei hilflose Kinder von unserem Wagen mit der kostbaren Last. Er sprach mit uns wie ein Vater, half uns aus dem Walde bis zur Straße, wo wir dann selbst weiter konnten.
Der kleine fünfjährige Bruder verstand sich gut mit den russischen Familien, und ab und zu brachte er auch von ihnen etwas Eßbares. Als dann die Frühkartoffeln so weit waren, ging der Bruder in die Felder der Russen und buddelte mit seinen Händen die Kartoffelstauden an. Er wurde dann von den Russen rausgetan, er wiederholte es aber immer wieder, indem er sagte: "Was schmeißt du mich raus, ich habe Hunger". Diese Antwort hat ihm so gefallen, daß er dem Jungen seinen Pullover, den er anhatte, unten zuband und von oben ihm die Kartoffeln hineinsteckte. So kam er dann mit etwa 20 Pfund Kartoffeln nach Hause. Dies durfte er oft wiederholen , so daß wir nun mit Kartoffeln versorgt waren. Aber diese intime Freundschaft wäre ihm bald zum Verhängnis geworden.
Eines Tages war er so lange weg, und meine Schwester war schon sehr unruhig, warum Friedhelm solange fort ist. Kurz entschlossen geht sie ihn suchen. Sie sieht ihn gerade auf einem russischen Wagen sitzen, die Familie sollte versetzt werden und nahm den Jungen einfach mit. Meine Schwester, kurz entschlossen, nahm ihn vom Wagen und rannte mit ihm los. Das war seine Rettung, sonst wäre er verschollen für immer. In mancher Notlage hat doch die wunderbare Hand Gottes uns gerettet. Ja, selbst Krankheiten sind uns nicht erspart geblieben, aber immer wieder ging es weiter, wenn wir`s auch kaum glaubten.
Unsere Hoffnung, doch bald nach Deutschland zu kommen, wurde uns immer vereitelt. Es dauerte noch bis zum 25. Oktober 1947, dann wurden wir auch ausgewiesen. Aber es war uns eine Freude, nun bald die Heimat zu verlassen, denn es war doch nichts mehr, was uns hielt, noch länger so ein Leben zu führen. Wir wurden zusammengefaßt an den Ortschaften längst des Frischen Haffes des Kreises Samland. Der Transport ging vom Hafen Großheidekrug mit einem Schiff nach Königsberg. Die Russen mit ihren Familien begleiteten uns noch bis zum Hafen. Wir haben vor Freude gesungen, und die Russen haben geweint und sagten: "Wenn ihr alle fort seid, geht es uns schlechter als euch."
In Königsberg wurden wir noch mal untersucht und uns nochmals das Letzte geraubt. Das deutsche Geld, das man noch in Kleidern eingenäht hatte, wurde uns fort genommen und zerrissen. Ebenso jegliche Art Papiere, die man gern mitnehmen wollte. Meine Schwester hatte auch noch ein Sparkasssenbuch mit, es wurde einfach zerrissen. Was man noch an guter Kleidung am Körper trug, mußte man abgeben und für schlechte Kleidung noch Rubel bezahlen. So manche Träne wurde noch geweint, daß man sich in keiner Weise helfen konnte. Es war dieses das neunte Mal, daß wir so geplündert wurden. Wir waren nur noch Kinder und machten uns keine Sorgen, aber dennoch sah man alles und erlebte alles wie auch die großen Leute.
Wir wurden nun im Güterwagen verfrachtet auf ein ungewisses Ziel. Auf dieser Fahrt, die 16 Tage dauerte, erlebten wir so manches. Menschen wurden krank, Menschen starben und Menschen wurden auch geboren. So kamen wir nach 16 Tagen in Bitterfeld bei Berlin an. En großes Lager noch mit hohem Stacheldrahtzaun umgab uns, aber eines beseelte uns, wir waren endlich mal vom Russen weg.
Das Lager war nun doch schon etwas geregelter, wenn wir auch mit 40 Personen in einem Raum waren so hatte man doch die Hoffnung, das Lager bald zu verlassen. Wir hatten nun die Adresse von unserem Papa und sandten ihm ein Telegramm, wo wir waren, denn er hatte von Januar 1945 bis November 1947 überhaupt keine Nachricht von uns.
Am 20. November 1947 war unser Papa nun im Lager und holte uns ab. Als wir uns nun hier im Lager wiedersahen, konnten wir alle kein Wort sprechen. weder Papa noch wir. Wir saßen bei ihm auf den Knien und weinten uns erst tüchtig aus, ehe wir ein Wort sprachen. Es waren Tränen der Freude, des Wiedersehens, die wir so lange nicht kannten. Unser Papa war auch tief ergriffen über unsern Anblick und auch all der Bekannten, die mitgekommen waren aus der Heimat. Die Zeit hatte alle Leute alt und jung, unkenntlich gemacht. Eine junge Frau zum Beispiel, die in unserm Heim aus und einging, wollte mit Papa sprechen, aber er kannte sie nicht, weil sie schneeweiß geworden war.
Am 21. November 1947 fuhren wir mit Papa nach Goslar nach seiner Unterkunft, wo wir dann nach lange Zeit im Bett mal schlafen konnten. Diese Russenzeit war an uns Kindern doch nicht ohne Folgen geblieben. Ich als der Älteste, brach nun hier völlig zusammen, so daß ich sofort ins Krankenhaus mußte. Meine zwei Geschwister kamen in liebe Familien in Goslar unter, die sich unserer sofort annahmen, da ja Papa selbst nichts hatte, da er auch in der Gefangenschaft gewesen war.
Nach meiner Genesung durfte ich vom Roten Kreuz noch zur Erholung in ein Kinderheim bei Hannover. Es waren dort vier sehr schöne Wochen, wo man wieder mal Kind mit Freude war. Am 12. April 1948 brachte uns Papa nach einem Kinderheim an der Bergstraße, Bensheim-Auerbach, Bundes-Waisenhaus. Das war ein Heim für heimatlose Kinder. Hier verlebten wir bis Juli 1950 glückliche Kinderjahre, die uns alles vergessen ließen, was wir nun hinter uns hatten.
Es war nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was uns die Russenzeit erleben ließ, und wir wünschten nur, nicht noch mal in die Hände der Russen zu fallen. Heute bin ich 18 Jahre alt, und wir sind nun seit kurzer Zeit in Canada. Ich habe alles so festgehalten in meinem Gedächtnis, wie es damals war, und heute weiß man, wie wunderbar doch Gottes Führungen waren, denn hätte unsere Zeit in Ostpreußen noch länger gedauert, so wären wir Kinder vielleicht auch den selben Weg wie unsere liebe Mutti gegangen, und hätten den Vater nicht mehr gesehen.

Martin, Helga, Friedhelm Kähler.

Erschien vom 1. April 1954 alle 14 Tage im "Der Sendbote" bis 29. April 1954

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