Heimat Bote Nr. 42


Auf den Pfaden der Kindheit


Bericht und Gedanken zur Reise nach Großheidekrug 2003
von Helmut Holstein (Keerl)

Am 24. Juni 2003 reisten wir zum zweiten Mal mit dem Schiff nach Memel, von da aus nach Großheidekrug Die Reise wurde wieder von Erika (Zoch) Walischewski, der Ortsvertreterin, organisiert .Es war insgesamt gesehen eine SamlandReise mit Schwerpunkt Großheidekrug und Umgebung. Diese Reise, wie auch die vor zwei Jahren war besonders schön, weil die Teilnehmer ausschließlich aus Großheidekrug, Kaporn und näherer Umgebung stammten. Die Reise verlief bis auf zwei kleine Pannen, die keiner besonderen Erwähnung bedürfen, sehr gut. Schon auf dem Schiff von Kiel nach Memel hatten wir Gelegenheit, uns kennenzulernen und Pläne zu schmieden.
Auf den ersten Blick fand ich die Reise für 1000 Euro und Visum sehr teuer. Man muß hier allerdings bedenken, dass wir für die Überfahrt mit jeweils zwei Personen in Vierbettkabinen untergebracht waren ausreichend Frühstück und Abendessen inbegriffen. Am 25., nach der Ausschiffung in Memel (die Fahrt hatte 20 Stunden gedauert), wurden wir von "Schnieder Reisen" in einem schönen Hotel zum Mittagessen eingeladen. Das Essen war bis auf die Beilage sehr gut (manchen Mitreisenden waren die Karotten und Bohnen zu hart. Rohkost?).
Dann ging es in ordentlichen Reisebussen mit kleinen Stopps von Memel über die Kurische Nehrung nach Rauschen. Die Abfertigung an der russischen Grenze verlief, im Gegensatz zu den Übergängen von Polen oder auch Tilsit, recht zügig. Es fand nur eine Passabfertigung statt, denn keiner mußte sein Gepäck öffnen. Am späten Abend waren wir in Rauschen und bezogen unsere Doppelzimmer im Hotel "Rauschen 2" wie vor zwei Jahren. Was mir damals nicht aufgefallen ist; die Zimmer sind etwas renovierungsbedürftig, denn in unserem Zimmer roch es unangenehm muffig und nach Kloake trotzt geöffneter über 60 Jahre! alter Fenster. In diesem Hotel hatten wir Halbpension. Das Essen war zufriedenstellend und das Hotel im übrigen recht angenehm.
Um noch einmal auf den Reisepreis zurück zu kommen: zu der Halbpension gab es bei jedem Ausflug ein Picknick. Man kann also mit Recht sagen, dass wir während der gesamten Reise bis auf eine Ausnahme, Vollpension hatten. Diese Ausnahme war der "Tag zur freien Verfügung" in Rauschen. Hier hatten wir uns aber etwas Tolles einfallen lassen, denn schließlich wollten wir auch ein bißchen Urlaub haben. Meine Frau Renate und Rosemarie Rogge, die Frau von Helmut Rogge (Sohn von Hermann u. Lina Rogge, Röttchers Lina) hatten bei unserem letzten Ausflug je einen großen Räucheraal gekauft. Etwas Brot erstanden wir in Rauschen und verbrachten damit den Tag bei herrlichem Wetter am Strand. Die Räucheraale mit trocknem Brot schmeckten herrlich.

Gleich am 26. Juni hatten wir nach einer kurzen Visite in Königsberg das erste Picknick in Großheidekrug neben dem Hafen, am Strand. Hier erwartete uns eine Abordnung der "neuen Großheidekrüger". Unter ihnen der langjährige Freund des Heimatboten Juri Eröjmin, Frau Berta Schischkina und die Reporterin Olga Eremeewa der Zimmerbuder Zeitung. Dann durch Gerhard Kosemund bekannt die Lehrerinnen Frau Suworowa mit ihrer Tochter Darja und Frau Afanasjewa. Etwas später kamen Herr Kenke, mir bekannt durch Karl Zibner (deutschrussische Begegnungsstätte, Rogge Haus) und Ruslan Aksjonkin hinzu, ein sympathischer Mann, der sich sehr für die Geschichte von Großheidekrug interessiert. Es war mir unangenehm, Ruslan nicht helfen zu können, denn ich denke, dass die Geschichte von Großheidekrug und Umgebung vor Ort gut aufgehoben wäre. Ich habe ihm in Eile die Heidekrüger Fischerboote zu skizzieren versucht, denn in meiner Erinnerung gab es nur "Lommen und Sicken", aber trotz gelernter Bootsbauer ist mir das nicht besonders gelungen. Mein Gedanke dabei war "vielleicht findet er ja irgendwo noch ein Wrack, aus dem man für ein Modell Form und Maße rekonstruieren könnte". Ich hatte Juri Eröjmin schon darauf angesetzt.
Ich habe die Namen der Neuheidekrüger bewusst angeführt, weil ich denke, dass es vertrauenswürdige Personen sind, von denen man Unterstützung erwarten kann, wenn jemand privat hinfahren will. Besonders schätzen gelernt habe ich Frau Suworowa, die bei jedem Aufenthalt in Großheidekrug zur Stelle war und jeden begleitete, der einen besonderen Wunsch hatte. So half sie auch mir bei der Suche nach dem Haus von Albert Mollenhauer, dem Mann von meiner Tante Lina, geb. Holstein.
Jetzt aber weiter zur Reise. Wir verabredeten noch einen Besuchstermin mit Berta und Juri in Zimmerbude, um dann endlich durchs Dorf zu ziehen. Bei meiner ersten Reise hatte ich ein Video gemacht, das ich ergänzen oder verbessern wollte. Wichtig waren mir aber auch Fotos für den Heimatboten, aber was mußte mir passieren? Ich habe zwei Filme übereinander fotografiert, also 72 Bilder übereinander! Na ja, ein paar sind noch geblieben.
Von den sechs Tagen, die wir ab Ankunft Rauschen und vor Abfahrt nach Memel zur Verfügung hatten, haben wir uns, auch Helmut Rogge mit Ehefrau, in Großheidekrug aufgehalten. Eine Wurst zu essen und etwas Erfrischendes zu trinken, ist in Großheidekrug mit ein paar Rubeln kein Problem mehr. Wir hatten damit vor zwei Jahren noch einige Schwierigkeiten. Endlich schaffte ich es auch, mir einmal meinen Wunsch zu erfüllen und, egal was es kostet, mit einem Boot über das Haff auf den Damm zu kommen. Ist es nicht traurig? In Großheidekrug gibt es kein Ruderboot, kein Segelboot und auch keine Fischer mehr. Die Fischer, die ich bei meiner ersten Reise gesehen hatte, waren nur Angler oder Freizeitfischer mit Außenbordmotoren in ihren Schlauchbooten oder Nussschalen.

Ich hatte mir eine ruhige Fahrt, ganz langsam über das Haff zu rudern, vorgestellt, wollte noch einmal die Stille genießen und das Gluckern des Haffwassers an den Planken des Bootes hören. Nein! es war nur ein rasendes Etwas aufzutreiben. Man kann sich auch mit Geld in der Heimat nicht alle Träume verwirklichen. Nun ja, ich war auf dem Damm und konnte zum Dorf rüber schauen. In Gedanken versunken habe ich aber die schöne Natursteinmole, den Hafen mit den weißen Geländern, den weißen Badestrand mit den Umkleidekabinen und die schöne mit Schilf bewachsene Haffküste gesehen Letzteres war teilweise wirklich noch vorhanden.
Immer wieder bin ich den Weg vom Badestrand zum Hafen und dann ins Dorf gelaufen. Rechts habe ich die Eisdiele (Linke Liske) und links den Hof von Deichsels gesucht. Rechts das Grundstück von der Gaststätte Höllger lässt sich noch gut bestimmen und ist außer einem gemauerten Schuppen nicht bebaut. Ecke lange Straße und der Straße zum alten Friedhof stand die Gaststätte Lappöhn.
Das Grundstück war vor zwei Jahren noch leer, jetzt hat man dort einen neuen Zaun errichtet, und dahinter entsteht ein neues Gebäude. Rechts herum zur Schulstraße neben Höllger lag der Hof meiner Eltern. Haus, Stall und Schuppen sind verschwunden. Es ist kein Stein übrig geblieben. Das Grundstück ist noch unbebaut. Daneben der Hof der Familie Kepp. Dicht an der Straße steht ein Haus mit einem ordentlichen Garten, das neue Haus Kepp. Stall und Schuppen sind weg. Daneben ehemals Wilhelm Mollenhauer mit Sohn Karl. Karl hatte drei Kinder: Willi, 35 geb., Erwin und Gerda. Das Grundstück wird genutzt, ein Haus steht an der Straße aber vom alten Hof ist nichts geblieben. Dann das Haus von Hanke (Lekiene Rosa mit Sohn Horst Hanke, 35 geb.), Unland.
Ich biege in den Taterberg ein und suche rechts die Baptistenkirche. Eine hübsche Holzkirche, von der nicht alle Heidekrüger wissen. Sie wurde etwa drei bis vier Jahre vor dem Kriegsende gebaut. Ich weiß von meinem Bruder Willi, aber auch von meinen Eltern, dass die Kinder aus dem Dorf besonders kurz vor Weihnachten oder Ostern dort hingingen um an den Festtagen Geschenke zu bekommen. Scheinbar haben es die Baptisten in diesem Falle recht großzügig gesehen und keinen Unterschied zwischen den Konfessionen gemacht.
Diese rechte Seite Schulstraße Taterberg, von Mollenhauer bis zur Baptistenkirche ist schlecht zu beschreiben: sind es Datschen, wohnt dort jemand? Irgendwie ist alles Unland wie auch die Äcker und Weiden weiter in Richtung Kaporn. Auf der linken Seite der Schulstraße, von Lappöhn in Richtung Schule, wohnte eine Familie Kirschnick. Wem das Haus gehörte, weiß ich im Moment nicht, und auch von dem anschließenden Haus weiß ich nicht den Namen des Besitzers, aber bekannt war mir die Familie Sakuth. Das Haus stand direkt gegenüber von unserem Hof, und Sakuths wohnten im oberen Geschoß. Im unteren Bereich befand sich ein größerer Raum, in dem die Baptisten ihre Andachten hielten, bevor sie sich eine eigene Kirche bauten.
Auch hier ist alles platt inklusive Armenhaus, das rechts von dem Weg lag, der von der Bäckerei Schmoller zum Tommelplatz führte. Ich habe diesen Bereich einmal etwas zu beschreiben versucht, weil ich aus allen vorhergehenden Berichten und Filmen nie etwas erfahren habe. Dabei lag in meinen Jugenderlebnissen doch hier das Zentrum des Dorfes.
Im alten Dorfkern scheint es kein System zu geben nach dem bebaut werden darf. So habe ich festgestellt, dass der Kleinheidekrüger Weg eigentlich die Verlängerung der Schulstraße war. Aber genau dort steht ein Haus, und der Weg ist wesentlich weiter nach rechts verlegt worden. Also hat jemand auf dem Weg gebaut, weil man links und rechts hätte Trümmer wegräumen müssen?
Ich wollte unbedingt nach Kleinheidekrug und stand plötzlich vor einem neuen Haus in großem umzäuntem Grundstück. Auch hier hatte jemand auf einem, meiner Meinung nach genutzten Weg gebaut. Wir machten einen großen Bogen um das Grundstück und kamen wieder auf die Verlängerung des ursprünglichen Weges. Doch der Weg führte durch einen Wald, der früher nur zur Rechten lag. Jetzt beginnt der Wald etwa fünf bis achthundert Meter vor Kleinheidekrug und verläuft über die Äcker hinter dem Ärgernishaus weiter in Richtung Marschenen. Im Prinzip finde ich es gut, denn vielleicht wird damit der Geruch des Königsberger Abwässerkanals gänzlich aufgehoben.
An einen üblen Geruch im Dorf kann ich mich, trotzt gegenteiliger Meinung, von früher nicht erinnern. Es sei denn, man hat sich in unmittelbarer Nähe des Kanals auf den Äckern aufgehalten oder bei extremen Wetterlagen.
Ich bin wieder nicht nach Kleinheidekrug gekommen, denn alleine durch den Wald wollten wir nicht gehen. Warum Kleinheidekrug? Wir hatten uns vom ersten bis einundzwanzigsten Februar 1945 vor den Russen versteckt, bis die Strecke Königsberg Pillau wieder von deutschen Soldaten frei gekämpft wurde. Wir konnten wieder ins Dorf zurück. Dieses Versteck, ein Sommerhaus von Höllger, hätte ich gerne gefunden.
Abgesehen von der Haffküste fühlte ich mich in der Schustergasse besonders heimisch, zumindest am Anfang des Weges. Hier stehen noch die alten Linden, ein paar alte Bauten, der Transformator und noch einigermaßen erkennbar das Haus von Harbecke. Der alte Friedhof im Dorf ist bebaut und der neue, mit Ehrenmal, in erbärmlichem Zustand. Hier gäbe es eine Möglichkeit etwas für die Geschichte von Großheidekrug zu tun. Ich könnte mir vorstellen, die noch verbliebenen Grabsteine neben dem Ehrenmal zu plazieren und zu sichern? Eine Gedenktafel ist hier wohl immer noch nicht akzeptiert, obwohl es hier und da schon erfreuliche Ansätze im Samland gibt.
Die vielen Fahrten durch das Samland führten meist durch herrliche alte Alleen. Hier muß ich einfügen, dass unserer Reisegruppe täglich zwei gute Reisebusse mit je einer Reiseleiterin zur Verfügung standen. Ludmilla hatte mir vor zwei Jahren gut gefallen. Aber bei dieser Reise begleitete uns im zweiten Bus Maja, von der ausnahmslos alle begeistert waren. Ihr Wissen über Land und Leute war beträchtlich, und ihre besonnene, ruhige Ausstrahlung machte die Ausflüge zu angenehmen Erlebnissen. Diese Busfahrten waren im Reisepreis eingeschlossen, bis auf den freien Tag, an dem jeder seinen persönlichen Interessen nachgehen konnte.
Wir haben aber zweimal auf die Busfahrt verzichtet und sind mit dem Taxi auf anderen Wegen nach Großheidekrug gefahren, ein Mal zum Besuch von Berta Schischkina und Juri Eröjmin und ein Mal für die Tour zum "Damm", wo Rosi und Helmut Rogge auch bei den Bewohnern ihres Elternhauses eingeladen waren.
Hierbei kam mir der Gedanke, ob es für mich nicht besser ist, dass es mein Elternhaus nicht mehr gibt? Ich leide schon, wenn ich mir das leere Grundstück ansehen muß und weiß nicht, warum ich beruhigt bin, dass noch keiner davon Besitz ergriffen hat. Es mißfiel mir schon, dass auf dem Grundstück von Lappöhn gebaut wird. Warum? Ich kann es mir nicht erklären.

Jetzt aber zurück zum Samland und den schönen Alleen. Auffällig war, dass wesentlich mehr Äcker bestellt waren, und wir mehr arbeitende Menschen mit neuen Ackergeräten gesehen haben, als vor zwei Jahren. Das ganze Samland ist landschaftlich wunderschön. Die verwilderten Felder in der sanft hügeligen Landschaft, mit Busch und Baumbestand, mit Wildblumen und den vielen Störchen machen es zum Naturparadies im Gegensatz zu den früher wogenden Kornfeldern. Wer nach Großheidekrug oder ins Samland reist, dem empfehle ich, nicht so sehr auf die "Errungenschaften der Sowjetunion" zu achten, dann wird er nicht enttäuscht sein.
Ich habe in Großheidekrug versucht, z.B. an den "neuen" Hafenanlagen bei der Signalstation und auch der alten Hafenanlage vorbei zu sehen und bin daher nicht so sehr enttäuscht. In meiner Erinnerung bleibt es so schön, wie ich es als Kind erlebt habe. Ich muß an dieser Stelle einmal einflechten, dass im russischen Ostpreußen die Heimatdichter wesentlich höher gewertet werden, als hier in Deutschland. So wurde in Königsberg zum Beispiel an dem Haus, in dem Agnes Miegel gelebt hat, eine Gedenktafel angebracht. Aber hier wird sie nicht geachtet, weil sie das Wort Vaterland benutzte und nicht das HitlerRegime genügend bekämpft hat.
In Zimmerbude waren wir vom Bürgermeister eingeladen. Hier gab es einen Raum, in dem ein paar Sachen aus deutscher Zeit ausgestellt sind. Mein Eindruck ist; es sind zaghafte Anfänge, noch nicht sehr ergiebig, denn vom Leben am Frischen Haff bekam man keinen besonderen Eindruck.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden, und hier könnte man doch zeigen, was Lommen und Sicken waren, und dass auf dem Haff nur unter Segeln gefischt werden durfte.
Ich werde meinen Bericht hier abschließen, denn ich bin kein geübter Schriftsteller und hatte mit Aufsätzen schon immer Probleme. Auch meine Gedanken schweifen zu oft in alte Erinnerungen ab, weil ich meine Heimat zu sehr liebe. Es gäbe noch vieles zu sagen, aber die Entscheidung, was von allgemeinem Interesse ist, fällt mir schwer.
Ich habe dort Freunde gefunden und zähle dazu auch unsere Reiseleiterinnen. Maja schenkte mir ein Buch mit Gedichten ostpreußischer Dichter, zur Hälfte in Deutsch und zur Hälfte in Russisch. Hier noch einmal herzlichen Dank.
Zuletzt muß ich noch einmal etwas zum Reisepreis bemerken. Ich war zunächst entrüstet über den hohen Preis, habe im Nachhinein ähnliche Schiffsreisen mit unserer verglichen und bin jetzt der Meinung, dass der Preis gerechtfertigt ist.

Helmut Holstein





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