Heimat Bote Nr. 42


Finstere Nachtgestalten

Geheimnisvolle Vorgänge in Großheidekrug.

Da krame ich in "alten Kisten", sprich Erinnerungen und suche nach längst vergangen Sachen, die mir leider – bis auf ein paar Bruchstücke – verlorengingen. So ist das eben mit uns; die Älteren zu befragen verschob man von einem Jahr auf das andere, und nun selbst alt geworden – fängt man an zu sammeln. "Warum?", habe ich mich in Pinneberg gefragt, "wissen so wenige von den von mir Befragten davon, denn immerhin ging es um recht ungewöhnliche Dinge. Radaus Frieda wußte viel, und mit der habe ich mich jetzt telefonisch kurzgeschlossen und alles aus ihr herausgeholt, was wissenswert ist. Schließlich wohnten Radaus in der Nähe von SchippsGerwiens, bei denen sich alles das abspielte, was ich hier unbedingt erzählen möchte, weil es ja das ganze Dorf betraf.

Es muß im Jahr l942 gewesen sein, als Herr Saager unser Bürgermeister war, und sich in unserem Ort seltsame Dinge abspielten. Verschiedentlich wurden an späten Abenden oder in der Nacht Frauengestalten, bekleidet mit langen Röcken und Kopftüchern gesehen, die wegen ihrem Gang, ihrer Größe und breiten Schultern befremdet anmuteten. Sie spazierten durchs Dorf, vornehmlich auf der Straße nach Vierbrüderkrug. Solche Frauen man kannte sich im Dorf – gab es bei uns eigentlich nicht, auch paßten der Gang und die breiten Schultern nicht unbedingt zu einer Frau.
Gesehen wurden sie vornehmlich von den "Spätheimkehrern", die nach der letzten Skatrunde von Czeslicks nach Hause wankten. Deren Erzählungen, die letztendlich auch im Gemeindeamt landeten, in dem ich damals als Angestellte gearbeitet habe, wurden auch nicht sehr ernst genommen.
Da unser Bürgermeister gleichzeitig Amtsvorsteher war, war er gehalten alle Meldungen zu registrieren. Ich nehme an, daß er sich mit der Gendarmerie besprochen hat. Ich habe aber außer einem Achselzucken von keinen anderen Maßnahmen gehört, aber es hatte mit meiner Arbeit auch wenig zu tun.

Unser Dorf tauchte nachts in den Schlaf und war an manchen Abenden nur durch das diffuse Licht der abgedunkelten Straßenlaternen, von denen nur wenige ein leichtes Licht wegen der angeordneten Verdunklung verbreiteten, nicht gerade für einladende Spaziergänge geeignet. Wenn der Mond hell und aufdringlich schien, und Schatten bizarre Figuren an die Hauswände malte, dann war es vielleicht schön, wenn zwei Verliebte umarmt die Nacht genossen: aber alleine ..? Nein da konnte es schon ganz schön unheimlich sein. Irgendwann strich einem eine miauende Katze um die Beine, und ein Hund heulte seine Sehnsüchte dem Mond entgegen.

Plötzlich fingen die Vorkommnisse an, greifbarer zu werden. Hausbesitzer, die außerhalb des Hauses eine sogenannte Wasch oder Wirtschaftsküche auf ihrem Grundstück gebaut hatten, stellten plötzlich fest, daß ihnen Lebensmittel, wie Brot, ein Stück Butter o.ä. geklaut worden war. Sie verdächtigten meistens ihre Nachbarn ohne sie direkt beschuldigen zu können. Damals schloß man Stall und Wirtschaftsküche nicht ab und meistens auch nicht einmal die Haustür.
Ich wohnte – in Richtung Marschenen gesehen am Ende unseres Dorfes.

Wer und warum man ausgerechnet mich damals zu BDMFührerin gemacht hat, weiß ich nicht, denn ich hatte, ich gebe es zu, von Tuten und Blasen keine Ahnung. Das half aber alles nichts, einmal in der Woche mußte ich den langen Weg am späten Abend zur Schule machen. Wir gestalteten unser Beisammensein als sogenannten Heimabend. Selten oder fast gar nicht wurde Politik erwähnt. Wir sangen und bastelten und hatten Spaß am Gestalten von Kinderspielzeug, das wir mit den Jungen von der HJ, die sich die Holz und Sägearbeiten vornahmen, abstimmten. Ab uns zu gelang es mir, den Lehrer August zu einem MusikAbend zu gewinnen; Er spielte Geige und Klavier und – übrigens – in der Kirche die Orgel.

Die Mädchen aus dem Ort kamen zu zweit oder zu dritt, selten oder nie allein. Vielleicht erinnert sich Albert Homp (Ruchels Meier) daran, daß ich ihn einmal gebeten habe, mich nach Hause zu begleiten. Der Meier und ich arbeiteten zusammen im Amt als Kollegen. Wir legten die Heimabende zeitgleich, so daß ich manchmal mit seiner Begleitung rechnen konnte. Wenn ich alleine nach Hause ging, spürte ich oft, als ob jemand hinter mir herging.
War ich alleine, langte ich außer Atem zu Hause an. Alle lagen schon im Bett, und ich wurde wegen meiner sogenannten Ängstlichkeit sowieso schon immer ein wenig verlacht. Wie oft hat Lenchen mich nach Hause gebracht, obwohl sie noch einen sehr langen Nachhauseweg bis weit hinter Höllgers Gaststätte hatte. Hatte sie auch Angst, und tat sie mir nur einen großen Gefallen? Ich habe wenig darüber nachgedacht.

Plötzlich wurde herumerzählt, daß auf einem Toilettenhäuschen ein Wildfremder entdeckt wurde, der mit Knüppeln und Stöcken vertrieben wurde. Jetzt steigerten sich meine Ängste. Ich wollte den Weg spätabends von der Schule nicht mehr alleine machen. Mama und meine Schwester konnte ich überreden, mich doch bitte, bitte abzuholen. Bei Czeslicks trafen wir aufeinander. Beide kamen verängstigt an, nahmen mich in die Mitte und erzählten mir, daß drei Gestalten hinter ihnen hergegangen wären, die sie beim besten Willen nicht kannten. Neben Czeslicks war eine Scheune, und an dieser Scheunenwand sah auch ich sie. Sie hatten sich dicht an die Wand gedrückt, ließen uns erst eine Weile vorgehen, aber kamen dann in immer schnelleren Schritten hinter uns her. Es war kein anderer Mensch auf der Straße.
Wir schafften den Weg, der zu unserem Haus führte, nicht mehr, liefen den Weg der zu Ratz Gerwiens und Gringels führte und klopften wie wild Ratze Liese aus dem Haus, bei der wir ein kleines Licht in der Wohnung entdeckt hatten. Sie war von unserer Angst so angesteckt, daß sie flugs hinter uns die Haustür verriegelte, und dort haben wir dann die Nacht verbracht, bis der Morgen graute.
Unser Vater war damals (so meine ich heute wenigstens) in Pillau Soldat, und meine Großeltern und mein Bruder haben fest geschlafen; die haben uns gar nicht vermißt.
Es war eine scheußliche Nacht. Wir trauten uns nicht aus der Wohnung. Mama und die Tante Liese hatten sich quer über die Betten gelegt, und meine Schwester und ich haben die Stunden sicherlich auf dem Fußboden und den Stühlen verbracht, die man mit den heutigen Sesseln bestimmt nicht vergleichen kann.
Es gab vermehrte Meldungen im Amt. Der eine hatte dies, der andere hatte das gesehen.
Dazu kam, dass jeder, der bei uns im Gemeindeamt tätig war, verpflichtet wurde, eine Nachtwache im Amt zu verbringen. Die Häuser mußten alle verdunkelt sein, und wir versahen einen sogenannten Luftalarmdienst. Bei einem möglichen Luftangriff auf Königsberg wurden die umliegenden Gemeinden verständigt. Es war eine Zeit in der ich nicht gerne im Dorf gewohnt habe. Aber das sah am Tage wieder halb so schlimm aus, und alles war gut.

Russische Gefangene waren zur Arbeit bei den Landwirten in unserem Dorf untergebracht. Es waren gesunde junge Männer, die bei den meisten Bauern Familienanschluß genossen, und die miteinander zu einer gewissen Vertrautheit gelangten. Viele übernachteten auch bei den Bauern, bei denen sie arbeiteten. Aber soviel ich weiß, war ein größeres GefangenLager mit Russen in Vierbrüderkrug.

Doch die Meldungen über gestohlene Hühner oder auch sonstige Lebensmittel nahmen zu. Dem Bürgermeister sträubten sich die Haare. Möglicherweise könnten es hungrige Königsberger sein, die das Dorf gut kannten oder! – und hier meinte man auf der richtigen Spur zu sein der Händler aus Königsberg, der die einzelnen Häuser kannte, weil er im Sommer mit seinem Auto vorfuhr und Kirschen aufkaufte. Der war einer, der sich im Dorf gut auskannte.
Nichts war – der war unschuldig und wegen des Verdachts schwer gekränkt.

Endlich jedoch war man fündig geworden. Ausgebrochene russische Kriegsgefangene hatten sich bei SchippsGerwiens oben im Stall im Heu versteckt und übten dort das Überleben. Vielleicht haben sie hier auf das Kriegsende gewartet. Am Tage verhielten sie sich mucksmäuschenstill, und in der Nacht verschafften sie sich frische Luft. Gerade hier mitten im Dorf standen die Häuser sehr dicht beieinander. Im Amt hörte ich, dass auch noch an anderer Stelle so etwas vor sich ging.

Wie sie auf die Idee gekommen sind, sich mitten im Dorf zu verstecken, war uns allen ein Rätsel. So hausten sie wochenlang in Dorfmitte und hatten sich längst mit den Gewohnheiten der Einwohner vertraut gemacht. Mit Hilfe der Gefangenen, die bei den Landwirten arbeiteten, konnten sie sich alte Frauenkleidung verschaffen, und wenn alles im Dorf schlief, machten sie ihre Spaziergänge. Daß die Hunde nicht anschlugen, hatte bestimmt auch seinen Grund. Mit denen hatten sie sich längst angefreundet.

Auch hat Radaus Frieda mir erzählt, dass Russen öfter zu ihrer Mutter in die Wohnung kamen, sich als Kriegsgefangene vorstellten und um Arbeit wie Holzhacken baten, weil sie Hunger hätten. Nicht offiziell genehmigtes Beschäftigen von Kriegsgefangenen wurde damals streng bestraft. Deswegen gab sie ihnen ein paar Butterbrote mit und manchmal ein Stückchen Speck.

Gehungert haben die Russen in ihrem Versteck nicht, wohl aber haben sie auf jede Hygiene verzichten müssen.
Eines Tages müssen sie den Einfall gehabt haben, nachts ein großes Fest zu feiern. Dazu brauchten sie Hühner und Enten und einen geeigneten Raum, wo die Feier unbemerkt fröhlich von statten gehen konnte. Dazu suchten sie sich die Wirtschaftsküche bei MeisterThalmanns aus, die einsam weit ab vom dörflichen Geschehen dicht an der Pelk wohnten.
Nach dem Gelage war ganz offensichtlich nicht aufgeräumt worden, aber wer da gehaust haben könnte, war immer noch nicht raus. Es war auch in anderen Wirtschaftsküchen, die alle außerhalb der Wohnungen lagen, gekocht und gegessen worden. So viel Aufregung gab es um das Drumherum gar nicht Die Heidekrüger nahmen das alles etwas gelassen hin, bis auf die Betroffenen natürlich.

Erwischt hat man sie letztendlich doch. Der Stall in dem sie gewohnt hatten, war derart verdreckt, daß der Onkel Radau, der bei der Säuberung half, sich übergeben mußte. Die letzte Ecke hinten war als Toilette benutzt worden. Es stank bestialisch, mehr als in einem Schweinestall; aber es war auch ein richtiger Schweinestall in dem sie hausten und von daher nicht einmal schlecht ausgesucht.

Was letztendlich aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, daß man sie erwischt hat. Ich weiß aber, dass sie mitten an einem Tage aufgestöbert wurden und Hals über Kopf getürmt sind. Es gab große Aufregung, Gerenne und Geschrei. Ja, es waren junge Männer, die überleben wollten, die Hunger hatten und sich auch gerne mal eine Frau gegriffen hätten. Heute sind sie alt, und sicher lebt nicht mehr einer von ihnen, denn Kriegsgefangene russische Soldaten wurden auf Befehl von Stalin nach Sibirien verbannt oder erschossen, weil sie sich hatten gefangen nehmen lassen.

Am Ende ist zu sagen, daß betroffene Großheidekrüger noch leben und diesen Bericht erweitern oder richtig stellen könnten. Ich denke da an Schippsche Lenchen, an Strempels Eva oder an die beiden Töchter von MeisterThalmanns. Vielleicht habt Ihr etwas dazu zu erzählen. Schreiben oder anrufen – alles ist mir recht.

E. Mo.Hanemann





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