Heimat Bote Nr. 43

Die russische Reisebegleiterin Maja erzählte der Reisegruppe von Großheidekrügern im Sommer 2003 eine weitere Storchengeschichte, die sie auf Bitte von Helmut Holstein aus dem Gedächtnis auf schrieb. (Aus der Zeitschrift Ostpreußenblatt 1972.)

Eine Storchengeschichte
Von Frieda Dusch

Ich würde diese Geschichte für erfunden halten, wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte.

Mitte der zwanziger Jahre sah man auf dem Bauernhof im Samland oft einen Storch in gravitätischer Haltung herumspazieren. Er wurde von der ganzen Familie geliebt. Einst hatte den Storch des Bauern damals ein etwa sechzehnjähriger Junge hilflos hüpfend und flatternd auf einer Wiese gefunden. Es war nicht schwer gewesen, ihn einzufangen und vorsichtig nach Hause zu tragen.
Der Storch erholte sich bei der liebevollen Pflege: die weite Reise seiner Brüder und Schwestern in den Süden konnte er noch nicht mitmachen. Der ostpreußische Winter im warmen Stall bekam ihm sehr gut. Den nächsten Sommer verlebte er teils auf dem Hof, teils mit seinen Artgenossen. Er zog diesmal mit ihnen in den Süden.
Würde er wieder kommen? Ja, er kam wieder! Er baute wie selbstverständlich sein Nest auf dem Scheunendach des Hofes.
Dann verging die Zeit und der Junge war als Soldat im Krieg und dann in französischer Gefangenschaft. Er mußte auf den Feldern arbeiten, und wenn er Störche sah, erinnert er sich an die Heimat. "Grüßt mir die Heimat, grüßt mir die Heimat! Wo ist mein Storch?"
Da geschah etwas Merkwürdiges. Ein schöner, großer Storch verließ die Flugbahn, flog tiefer, umkreiste den Gefangenen, sieß sich nieder und kam aufgeregt mit den Flügeln schlagend auf ihn zu. Da erkannte der junge Bursche ihn – das war sein Storch. Am liebsten hätte er ihn umarmt, aber er fürchtete, ihn damit zu erschrecken, Jedoch, der Storch kam vertraulich ganz nah zu ihm, ja, er ließ sich sogar von ihm streicheln.
Dem Gefangenen kamen die Tränen, Plötzlich packte ihn ein Gedanke. Hatte er nicht ein Stückchen Papier in der Tasche und einen Bleistift? Schnell schrieb er auf das Papier: "Ich lebe." und dazu seine Anschrift.
Während er den Storch noch einmal streichelte, schob er das Stückchen Papier tief und fest zwischen die Flügelfedern, konnte es auch um eine Feder herumwickeln. Würden die Federn das Papier halten, viele, viele Tage?
Sie haben es festgehalten. Bei seiner Ankunft auf dem Hof marschiere der Storch so auffallend an den Eltern des jungen Mannes vorbei, wieder und immer wieder, bis sie das Papier entdeckten und ihn davon befreiten. Sprachlos lasen sie, was ihr Sohn geschrieben hatte.
Der lebt! Unser Junge lebt! Ein Jahr lang hatte sie keine Nachricht von ihm gehabt. Hier fuhr der Vater gleich zur nächsten Militärbehörde. Der Sohn wurde gegen einen französischen Gefangenen ausgetauscht und dann zur Unterstützung des alten Bauern entlassen.
Und dieses große Glück verdanken sie ihrem geliebten Storch!