Heimat Bote Nr. 43

Vorbemerkung
Während wir in unserer Heimat bis zum Einmarsch der Russen relativ ruhig und in trügerischer Sicherheit lebten, hatten "Die im Westen" schon jahrelang furchtbare Bombardierungen und die sinnlose Zerstörung ihrer Städte zu erleiden. Ich glaube, ein Blick auf das Schicksal der hiesigen westdeutschen Bevölkerung im Krieg kann auch für uns Ostvertriebene wissenswert sein.
Ein früherer Nachbar von mir in Hessen erinnert sich, was er 1945 als Kind in seinem Heimatdorf bei Aschaffenburg erlebte.
S. Hanemann


Erinnerungen
Von Rudi Eich

Am 30. Mai 1939 wurde ich als Sohn des Landwirtes August Eich (Schweinheim) und dessen Ehefrau Katharina Eich, geborene Buhleier (Sulzbach/M.) in Aschaffenburg am Main im Ortsteil Schweinheim geboren.

Wir wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus mit Garten. Mutter hatte von Allem etwas angepflanzt, das zum täglichen Verzehr geeignet war. Angefangen von Schnittlauch und Petersilie, bis zu Gurken, Bohnen und Kartoffeln. Ein älterer Apfelbaum am Bachrand, ein Birnbaum am Innenhof und zwei gut tragende Pfirsichbäume, die wild gewachsen, aber mit wohlschmeckenden Früchten behangen waren, standen an der Grundstücksgrenze zum rechten Nachbarn der Familie Herberich und ragten teilweise über den Zaun. Auch von der Straße her war das gelegentliche schnelle Pflücken möglich, deshalb waren wir immer auf der Hut, dass sich kein Fremder an unserem Obst zu schaffen machte.
Der HensBach, ein kleiner Bach, plätscherte in einer tiefen Mulde direkt am Fuße unseres Grundstückes vorbei und bildete eine natürliche Abgrenzung unseres internen Bereichs. Bei Gewitter oder starken Regenfällen war es leicht möglich, dass der tiefliegende Bach zum Strom wurde, um einige Meter anstieg, und das Hochwasser über den Garten bis hin zum Haus durch die vorgelagerte Waschküche in die Kellerräume drang.
Die Nachbarn, links die Familie Hein und rechts die Familie Herberich, waren durch einen einfachen Maschendrahtzaun von uns getrennt, so dass man leicht sehen konnte was sich in der Nachbarschaft tat oder nicht tat. Oft kam es auch zu einem Schwätzchen von Zaun zu Zaun.
Diese durch und durch ländliche Idylle wurde durch die Tatsache getrübt, dass der zweite Weltkrieg tobte und absolut kein normales Leben möglich war.

Mein Vater war Soldat der Deutschen Wehrmacht in Russland. Im Kampf um Stalingrad hatte man ihn zum Pferdetrossführer gemacht. Als Landwirt war ihm der Umgang mit Pferden vertraut, so dass er geeignet war, im Kugelhagel den Nachschub von Lebensmitteln und Kleidung, direkt zu den Kameraden an die Kriegsfront zu schaffen.
Mit der Zuspitzung der Kampfhandlungen in Russland wurde auch die Situation für die Menschen zu Hause immer schwieriger. Es gab so gut wie nichts zu kaufen, und Geld war auch keines da, denn es wurde ja alles für den sinnlosen Krieg gebraucht. Der Hunger war überall.
Ein in der Nachbarschaft wohnender NSParteianhänger empfahl meiner Mutter die Mitgliedschaft in der NSPartei. Damit könne man mit Sonderrationen und Vergünstigungen bei Lebensmitteln und anderen Sonderposten rechnen.
Mutter war durch ihr Elternhaus extrem katholisch geprägt, und sie war nicht gewillt, Menschen zu unterstützen die ihre Religion und Weltanschauung missachteten. Mit dieser Einstellung schwarnm sie natürlich gegen den Strom, und dies erleichterte ihr die Situation in keiner Weise.

Vor Kriegsende

Meine Erinnerungen gehen zurück bis ins vierte oder fünfte Lebensjahr. Es war die Zeit vor Kriegsende und dem totalen Zusammenbruch 1945.
Es heulten laufend die Sirenen und kündigten an, dass die nächste Angriffswelle alliierter Flugzeuge bevorstand. Irgendwie lebten wir alle in Angst und Schrecken.
Zu dieser Zeit war ich immer einer der ersten, der die anfliegenden Bombengeschwader hörte. Es begann mit einem leisen Brummen aus der Ferne und beschwor ein neuerliches Unheil herauf. Ich sagte nur: "Sie kommen wieder!" Soweit wir noch Gelegenheit hatten, packten wir das Nötigste zusammen und rannten etwa 600 Meter die Straße hinunter zu einer SchamotteGrube.
Unter normalen Umständen wurde dort feuerfeste Erde für den Ofenbau abgebaut, und die wurde dann in einer Fabrik zu feuerfesten Steinen verarbeitet. Nun waren in die Abbaufront zusätzliche Erdstollen getrieben worden und boten Menschen, die hier Unterschlupf suchten, Schutz vor Bombenabwürfen.
Jede Familie, die diesen ErdSchutzbunker einmal in Anspruch nehmen wollte, wurde schon vor Monaten, wenn nicht vor Jahren, verpflichtet bei der Erstellung der Schutzstollen mitzuhelfen. Meistens wurde diese Arbeit von Frauen und Kindern gemacht, da die Väter ja im Krieg waren. Es sei denn, sie hatten gerade Heimaturlaub.
Die Grabung des Stollens wurde wie ein großes U in die Wand getrieben, so dass der Stollengang etwa 100 Meter weiter an der Wand wieder herauskam. Dies hatte den Vorteil, dass man sowohl von der einen Seite, wie auch von der anderen Seite kommen oder gehen konnte. Da sich nach und nach immer mehr Menschen entschlossen, dort Schutz zu suchen, wurden zusätzlich zu dem Hauptstollen noch Seitenstollen gegraben. Die meisten Familien hatten dann ihren eigenen Stollen im Stollen.
Es gab also durchaus schon die Befürchtung, dass es einmal zu solchen Szenarien kommen könnte, deshalb sollte entsprechend vorgesorgt sein.

Schutz im Bunker

Ich erinnere mich an einen schlimmen Tag, als die Bomben fielen. Wir waren wieder mal im Schutzbunker angelangt. Die von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben entfachten ein Inferno. Unsere Stadt stand teilweise in Flammen, die Erschütterungen der explodierenden Bomben waren bis in den Bunker zu spüren. Ständig drängten noch Menschen mit Wolldecken in den feuchten Stollen um ebenfalls Schutz vor den Bombenabwürfen der Flugzeugstaffeln zu suchen. Wie üblich, fingen wir an zu beten. Die Kinder versuchten sich mit Spielzeug zu beschäftigen. Irgendwann ließ das Bombardement nach, und jeder war erleichtert, dass er wieder den Schutzbunker verlassen konnte.
Wir waren dann auf dem Weg zurück ins Haus, als plötzlich wieder Flugzeuge heran flogen. Es ging alles blitzschnell. Über uns, meiner Mutter und meinen Brüdern, befand sich wieder eine Flugzeugarmada und entlud ihre mörderische Fracht. Wie sich später herausstellte, brachten sie ihre Bomben in der Innenstadt ins Ziel. In diesem Moment dachte ich: jetzt treffen sie dich! Ich war wie versteinert, drückte meinen Kopf ins Erdreich, die Hände krallten sich im Gras fest. Die Hose war voll, und ich flatterte am ganzen Körper. Vom Schrecken gezeichnet hasteten wir wieder in den Bunker zurück. Diesmal warteten wir länger ab, bevor wir uns nach Hause wagten.
In den letzten Kriegstagen war der Bunker unser ständiges Zuhause. Es hieß, dass die Amerikaner eingetroffen seien und auf alles schießen würden, was sich bewegt. Überall liefen Soldaten der USArmee mit Maschinengewehren, gestikulierten und sprachen für uns unverständliches Englisch. Einmal versuchten wir, den Bunker zu verlassen. Da stand plötzlich ein schwarzer Soldat vor uns und zielte mit einem Revolver auf meine Mutter. In gebrochenem Deutsch forderte er meine Mutter auf: "Marsch, rein Bunker sonst ..." und schoss mit seiner Armeepistole zur Untermauerung seiner Drohung mehrmals in die Luft. Wir erlebten alle Ängste der Welt und verkrochen uns wieder in die Höhle, um abzuwarten. Keiner wusste wie es weitergehen sollte.
Ich weis nicht, wie lange diese Ungewissheit gedauert hat, jedenfalls hieß es irgendwann, wir könnten zurück zu unseren Häusern gehen und dort eine weiße Fahne aushängen. Die weiße Fahne sollte zeigen, dass hier kein Widerstand mehr zu erwarten sei.
Wir eilten sofort nach Hause und waren erleichtert, dass das Haus noch stand und äußerlich unbeschädigt geblieben war. Im Innern unseres Hauses gab es allerdings eine Ernüchterung. Vom Keller bis zum Dach war alles durchwühlt worden. Brauchbare Sachen waren verschwunden. Die Räume waren buchstäblich verwüstet und die Schränke ausgeplündert. Die Toilette war bis zum Rand vollgeschissen und daneben tummelten sich Schmeißfliegen im Kot.
Wir wussten nicht, wo wir anfangen sollten, im Haus wieder Ordnung zu machen. Da kündigte sich ein neues Unheil an. Mutter hatte gerade damit begonnen, in der Waschküche etwas Essbares zuzubereiten als irgend jemand aufgeregt schrie: "Da oben kommen amerikanische Panzer!" Tatsächlich am Sternberg, etwa 4 Kilometer entfernt, waren sie urplötzlich aufgetaucht. Einer nach dem anderen wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Von Ferne konnte man das Grollen der schweren Dieselmotoren hören. Wir verzogen uns vorsichtigerweise nach hinten in die Kellerräume. Dann passierte es. Ich hörte nicht mal den Knall der explodierenden Panzergranate. Ich weiß nur noch, dass ich mich plötzlich in einer weißen Staubwolke befand und nichts mehr sehen konnte. Ich fing an zu schreien: "Was ist passiert? Wo bin ich?" Steine rollten die Kellertreppe herunter bis vor meine Füße. Es war ganz einfach:
Die Soldaten der Panzerbrigade hatten einige Schüsse abgefeuert, um zu zeigen, wer hier jetzt das Sagen hat. Der erste Schuss hatte uns zwar gleich erwischt, aber schließlich hätte es ja auch noch schlimmer kommen können. Im Unglück waren wir noch froh, denn es hätte uns ja alle auch mit Verletzungen oder Tod treffen können. Es war die Stunde Null, und schlimmer konnte es kaum noch werden! So dachten wir jedenfalls.

Die Renovierung

Wie Mutter es schaffte, unser Häuschen wieder bewohnbar zu machen, ist mir bis heute ein Rätsel. Irgendwie musste jeder von uns mithelfen, damit nach und nach wieder alles in die Gänge kam. Es wurde aufgeräumt, sauber gemacht. Die herumliegenden Mauersteine mussten mit einem Hammer vom alten Putz befreit werden, damit sie wieder verwendet werden konnten. Das war natürlich auch etwas für mich, da konnte ich auch mithelfen. Von der Nachbarschaft bekamen wir frischen Zement. Der wurde mit Sand vermischt und angerührt. Wir reichten Mutter die Steine, und sie mauerte, so gut sie konnte, die zerbombten Wände zu. Das Dach war nicht beschädigt, so dass wir im Unglück auch wieder ein bißchen Glück hatten.
Es ging wieder ein Stückchen aufwärts. Allerdings ging nichts ohne Zustimmung der Amerikaner, die als Besatzungsmacht das Sagen hatten.
Inzwischen war ich im sechsten Lebensjahr. Man hatte ein provisorisches Schulsystem auf die Beine gestellt. Lehrerinnen und Lehrer durften keine Nazis sein, deshalb wurden kurzfristig Frauen und Männer angestellt, damit zunächst der Schulbetrieb wieder sichergestellt war. Ich wurde eingeschult und besuchte nun die Volksschule in Schweinheim.

Noch immer verfolgte uns tagtäglich der Krieg mit grausamen Facetten. Auf dem Weg zur Schule, zum Einkaufen oder außerhalb in Feld und Wald, überall lagen noch Munitionsreste herum. Die Amerikaner hatten nicht das Bedürfnis, die übriggebliebene Kriegsmunition zu beseitigen.
Wir wohnten am Rande der Stadt, so dass wir das freie Feld vor Augen hatten. Überall wimmelte es geradezu von KriegsUtensilien: Gewehre lagen herum, Munition, Blindgänger, ein liegengebliebener USPanzer, der noch bis oben hin mit Handgranaten, Panzergranaten und anderer Munition bestückt war.
Der Panzer weckte unsere Neugier. Mit Freunden gingen wir heimlich dorthin. Es war so eine Art von Treffpunkt, und wenn es regnete, waren wir im Trocknen. Die Gefahr, in der wir uns befanden, erkannten wir nicht. Wir stöberten in den Fächern und entdeckten neben in Folien verschweißten Lebensmitteln, Dosen mit haltbarem Brot, Nescafé, Zucker und Zigarren. Es machte richtig Spaß, den Panzer nach und nach auszuräubern, zumal solche Spezialitäten auf normalem Wege nicht zu bekommen waren.
Nach und nach wurden wir dreister und holten auch die Munition aus dem Panzer. Wir öffneten die mit Sprengstoff gefüllten Kartuschen, holten das explosionsfähige Spaghetti aus den Hülsen und nahmen sie mit nach Hause. Dort bildeten wir mit dem Pulver Figuren und zündeten es an. In der Schule erzählten wir dann bei unseren Kollegen, was wir wieder Tolles gemacht haben.
Es kam so weit, dass wir nach der Schule mit einigen Dingen handelten. Zum Beispiel, drei Patronen für 3 Äpfel oder so ähnlich. So sah es ein Jahr nach Kriegsende noch immer aus.

Mutter hatte immer noch Probleme, ein vernünftiges Essen auf den Tisch zu bringen. Das meiste musste der Garten liefern. Jeden Tag gab es Kartoffeln in abgewandelter Form. Von Vater hatten wir immer noch nichts gehört. Wir dachten, dass er vielleicht im Krieg gefallen sei. Bestenfalls konnte man sich ausmalen, dass er vielleicht noch irgendwo in russischer Kriegsgefangenschaft sei und keine Möglichkeit habe, ein Lebenszeichen zu geben. Man hörte Mutter immer häufiger sagen: "Ich glaube, August lebt vielleicht gar nicht mehr!"

Es verging fast wieder ein Jahr. Immer noch lagen Munitionsreste auf den Feldern verstreut herum. Wiederholt kam es vor, dass ein Bauer mit seinem Kuh oder Pferdefuhrwerk über eine im Erdreich vergrabene Mine fuhr und zerfetzt wurde. So ging es auch einer Nachbarin von uns. Sie saß auf dem Erntewagen und fuhr mit aufs Feld. Nach einer Minenexplosion (sie waren auf eine PanzerMine aufgefahren), war der Anhänger nach der Explosion mit ihr verschwunden. Sie war einfach nicht mehr da!

Öfters schickte uns Mutter in den Wald um Beeren, Tannenzapfen oder Brennholz zu holen. Sie dachte, im Wald sind meine Kinder gut aufgehoben, und sie können nicht viel Unsinn anstellen.
Mitten im Wald da standen wir auf einmal vor einem ausgewachsenen MunitionsDepot. Wer es angelegt hatte, war nicht zu erkennen. Kein Verbotsschild, kein Hinweis, keine Umzäunung. Fein säuberlich waren da aufgeschichtet: MörserGranaten, Panzerfäuste, Stielhandgranaten, MaschinengewehrMunition, Sprengkapseln und vieles mehr.
Alles lag so einladend da, gerade zum mitnehmen. Da niemand zuständig schien, galt diesem Depot unsere gesamte Aufmerksamkeit.
Es wurde öfters über dieses Munitionslager gesprochen. Vermutlich sind von diesem Ort einige Sprengkapseln, die zum Zünden größerer Granaten gedacht waren, aus dem Depot entfernt und unter Bekannten und Freunden, gegen andere Dinge getauscht worden. Auf diese Weise gelangten diese Zünder auch in unser Hände.

Es war am FaschingsDienstag des Jahres 1947, als unser ältester Bruder, Werner von dieser Sache erfuhr. Er erkannte die Gefahr, die von diesen Sprengkapseln ausging, sammelte sie ein und sagte: "Ich werde diese Dinger morgen irgendwo vergraben damit nichts passieren kann!"
Werner verstaute die Zünder in der Außentasche einer Armeehose. Diese olivgrünen Hosen aus Armeebeständen mit den aufgenähten Taschen waren sehr begehrt, da sie äußerst haltbar waren.

Dann ereignete sich das Schreckliche und Unfassbare. Gegen Spätnachmittag fragte mich mein großer Bruder Werner: "Gehst du nachher mit mir auf den Speicher, um Konfetti und Luftschlangen aus dem Fenster zu werfen." Ich sagte spontan ja und freute mich, dass er mich mitnehmen wollte. Es gab ja sonst kaum etwas zum Faschingfeiern. Er meinte: "Einen Moment noch, ich gehe erst noch mal zur Toilette, dann gehen wir nach oben."
Unsere Mutter war gerade dabei, eine Suppe vorzubereiten, zu der es selbstgemachte Fastnachtskreppel geben sollte. Deshalb waren wir schon um den Tisch versammelt und konnten uns kaum zurückhalten, weil uns das Wasser im Mund zusammenlief.

Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Wie erstarrt blickten wir in Richtung Tür. Werner öffnete die Tür und schwankte mit vor Schmerzen erstarrtem Gesicht in die Küche und rief: "Mama, oh Mama hilf mir!" Dann sank er auf den Boden und wimmerte leise. Es war so schlimm, und ich war verzweifelt. Durch die Explosion wurde am Oberschenkel meines Bruders das Fleisch bis auf die Knochen herausgerissen. Es roch nach Pulverdampf. In Panik rannte ich auf die Toilette und sah, dass die Fleischfetzen meines Bruders wie mit einer Spritzpistole hingeschossen an der Wand hingen. Ich ging nach draußen über den Hof und versteckte mich in der Holzhalle im letzten Winkel. Ich hatte Angst und wollte nichts mehr hören und sehen.
Ich kam erst wieder aus meinem Versteck, als ein Krankenwagen eintraf und zwei Sanitäter meinen Bruder abholten, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Den einen Sanitäter hörte ich noch sagen: "Das geschieht ihm recht. Er hätte ja die Finger von diesem Zeug lassen können!"

Im Krankenhaus, auf dem Krankenbett im Flur sagte Werner, dass er gar keine Schmerzen hätte und dass sicher alles wieder gut werden würde. Dort stand er auch am nächsten Morgen noch, aber da war er bereits tot. Man hatte ihn wohlweislich gleich auf dem Flur stehen lassen, um nicht unnötigerweise ein Stationsbett reinigen zu müssen.

Bis dahin erlebte ich meine finsterste Zeit. Sie war geprägt von Angst und Schrecken! Im Jahre 1948, also drei Jahre nach Kriegsende, gab es einen Lichtblick
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen und hatte noch meine guten Sachen an. Eine kurze Hose mit breiten Hosenträgern, ein kurzärmeliges, grau kariertes Leinenhemd und meine frisch genagelten Schuhe. Genagelt deshalb, damit die Ledersohle mit den sechskantigen Nägeln bestückt, möglichst lange halten konnte.

Da rief der Heinz, ein Nachbarjunge: "Dein Vater ist vom Krieg zurückgekommen. Er ist jetzt noch in der Nähe bei seinem früheren Freund Hettinger und wird sicher gleich kommen." Das war vielleicht ein Ding! So viele Jahre ohne Vater und plötzlich sollte er da sein? Ich konnte mich an meinen Vater nicht erinnern, und ich wusste auch nicht, wie er aussah. Ich ging also gleich bis zu dem besagten Haus und wartete in einiger Entfernung auf die weitere Entwicklung.
Tatsächlich kamen einige Leute aus dem Haus, von denen mir einer besonders auffiel. Er war dürr, hager und unrasiert. Auf dem Kopf trug er eine SchiffchenMütze. Die ausgebeulte Hose steckte in Lederschaftstiefeln. Er ging zu unserem Haus. Ich sah, dass unsere Mutter auf ihn zurannte und die beiden sich umarmten. Jetzt war ich ziemlich sicher: das ist wirklich mein Vater!

Als Gefangener hatte man ihn noch drei Jahre als billige Arbeitskraft in einem Bleibergwerk in Sibirien festgehalten und bis auf die Knochen ausgebeutet. Als er wertlos schien, wurde er nicht mehr gebraucht.
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