Heimat Bote Nr. 43

Die wirkliche Geschichte
des Königsberger Seekanals:

Von Fritjof Berg, Königsberg (Pr.) / Kiel

Was den Eheleuten Wasserberg bei ihrem Besuch über den angeblichen Bau des Königsberger Seekanals durch russische Gefangene im Kriegsjahr 1918 mit vielen Opfern, versteht sich, erzählt wurde, ist sozusagen nur die seewärtige Verlängerung dessen, was ich zu Beginn der 90er Jahre selbst einmal über meine Heimatstadt Königsberg (Pr) aus russischem Munde zu hören bekam: dass nämlich die Stadt Königsberg von russischen Kriegsgefangenen erbaut worden sei.

Die Mär vom Bau des Seekanals durch russische Gefangene 1918 entstammt schon deshalb dem Reich der Fabel, weil das bolschewistisch gewordene Rußland, als Ergebnis der Revolution(en) von 1917 zur Fortsetzung des Krieges nicht mehr in der Lage war und am 3. März 1918 mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich den Sonderfrieden von BrestLitowsk abschloß. Mit Sicherheit haben beide Seiten entsprechend Art. 20 der für sie geltenden Haager Landkriegsordnung unmittelbar danach ihre jeweiligen Kriegsgefangenen in ihre Heimat entlassen. (Von den rd. 15.000 ostpreußischen Zivilverschleppten sahen nur rd. 5.000 ihre Heimat wieder.)

Die günstige Verbindung Königsberg zur See, der Beitritt seiner Teilstadt Altstadt 1540 zur Hanse und die Verleihung des Stapelrechts an die Stadt sorgten bereits frühzeitig für die Entstehung eines seewärtigen Wasserweges am Nordrand des Frischen Haffs. Dieser wurde im 15. Jahrhundert und nach Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum ständig verbessert. Der große Kurfürst ließ die Fahrrinne 1681 bis 1683 auf 4 m Tiefe bringen.

Die eigentliche Geburtsstunde des Königsberger Seekanals ist der 1889 beginnende Ausbau dieser Wasserstraße. Möglicherweise hat die wachsende Bedeutung Königsbergs und seewärtigen Verbindung für die deutschrussischen Handels und Wirtschaftsbeziehungen bei der Legende vom Bau des Seekanals durch russische Gefangene Pate gestanden. Der Ausbau des (damals auch auf litauischem und polnischem Territorium verlaufenden) russischen Eisenbahnnetzes und sein Anschluß an die deutschen Bahnlinien in den Grenzbahnhöfen Eydtkuhnen und Prostken sowie die Sperrung der Schwarzmeerhäfen während des russischtürkischen Krieges (1677/78) lenkten den russischen Güterverkehr in erhöhtem Maße über die Ostseehäfen und insbesondere über Königsberg.
Die im deutschrussischen Vertrag von 1894 zugestandene tarifliche Gleichstellung des Königsberger Hafens mit den russischen Ostseehäfen machte Königsberg (und damit den Seekanal) zu einem der wichtigsten Ausfalltore für die russische Agrarausfuhr und gleichzeitig zu einem Einfuhrhafen für den Bedarf des russischen Hinterlandes an Konsumwaren und Produktionsmitteln. Die Ein und Ausfuhr belief sich in jeder Richtung auf eine für die damalige Zeit beachtliche Menge über eine Million Tonnen.
Königsberg wurde Welthandelsplatz für russische Linsen, Erbsen, Saaten und Faserstoffe, desgleichen wichtiger Transithandelsplatz für russisches Rohholz darunter viel Floßholz , das nach seiner Verarbeitung in ostpreußischen Sägewerken nach dem In und Ausland verschickt wurde. Bei der Einfuhr zur See standen Heringe im Vordergrund; von einer Einfuhr von rd. 600.000 Faß gingen 4/5 über die Grenze weiter, Königsberg war der zweitgrößte Heringshandelsplatz.

Als der ausgebaute Seekanal 1901 dem Verkehr übergeben wurde, betrug seine Länge von der Einmündung in die Ostsee (Norder und Südermolenkopf in Pillau) bis zur Mündung des Pregels bei Wehrdamm 34 km. Seine Fahrwassertiefe betrug im Pillauer Mündungsbereich je nach Wasserstand 7,40 bis 8 m. Von den landeinwärts gelegenen Einfahrten in den Pillauer Hafen betrug die Fahrwassertiefe bis Wehrdamm, abhängig vom Wasserstand, 6,40 bis 7 m. Der tatsächliche Tiefgang der Schiffe war für die Hauptrinne allerdings auf 6 m beschränkt. Der Kanal durfte mit Ausnahme ausländischer Kriegsschiffe von Schiffen aller Nationen befahren werden. Es bestand grundsätzlich Lotsenannahmepflicht. Besonderes Charakteristikum des Kanals waren die haffseitigen weidenbewachsenen, steinernen Leitdämme.

Der Versailler (Un) Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 mit seinen Deutschland amputierenden Grenzregelungen, die Entstehung der baltischen Randstaaten mit einer eigenen Hafenpolitik für ihre Ostseehäfen und der damit einhergehende wirtschaftliche Verfall der neu entstandenen Sowjetunion bedeuteten einen tiefen Einbruch in die Bedeutung des Seehafens Königsbergs und des Seekanals als Umschlagplatz und Transitweg für russische Produkte. Ihr herausragenden Vorkriegsanteil am dortigen Seehandel und an Seefracht wurde annähernd bedeutungslos.
Innerstaatlich begründeten Art. 97, 171 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 in Verbindung mit dem Gesetz über den Staatsvertrag betreffend den Übergang der Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich vom 29.7.1921 die Verwaltungszuständigkeit des Reiches auch für den Königsberger Seekanal. Er wurde Reichswasserstraße. Da das Reich aber im nachgeordneten Bereich noch nicht über eigene Behörden verfügte, wurden die nunmehrigen Reichswasserstraßen im Auftrage des Reiches in dieser Verwaltungsebene einstweilen weiterhin von den örtlich und sachlich zuständigen Landesbehörden verwaltet. Für den Seekanal war dies in der mittleren Ebene die Wasserstraßendirektion Königsberg beim dortigen Oberpräsidenten und in der unteren Ebene das Wasserstraßenamt Pillau.

Um neue Chancen für die Zukunft zu schaffen und für Königsberg und den Seekanal die vormalige Geltung für den Seehandel zurückzugewinnen, verfolgten ungeachtet der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage das Reich, der preußische Staat und die Stadt Königsberg zielstrebig den weiteren Ausbau des Seekanals, der 1930 mit einer Fahrwassertiefe von 8 m und einer schiffbaren Sohlenbreite von 70 m erreicht wurde. Er erhielt jetzt auch eine moderne Befeuerung auf ganzer Länge. Die bereits erwähnte Umstrukturierung der Wirtschaftsbeziehungen und Warenströme führte dazu, daß die Einfuhr (über den Seekanal) jetzt weit über die Ausfuhr hinausging. Sie lag 1938 im Verhältnis 2,9 zu 0,9 Mio Tonnen.


Eisfrei

Noch eine andere, für das Schicksal Königsbergs und Gesamtostpreußens folgenschwere Legende umgibt die Stadt und den Seekanal: die Legende vom angeblich "eisfreien" Hafen Königsberg Sie geistert teilweise leider sogar durch die deutsche Fachliteratur der Vorkriegszeit. Sie diente Stalin auf der Potzdamer Konferenz bekanntlich zur Untermauerung seiner Ansprüche auf das Königsberger Gebiet. Sie wird bedenkenlos in allen Medien nachgeplappert, alle tatsachenbezogenen Einwendungen prallen an der dortigen Ignoranz ab In Wahrheit litt jedenfalls zu unserer Zeit auch der Seeverkehr Königsbergs und seines Vorhafens Pillau unter den strengen Wintern Ostpreußens. Konnte der seewärtige Verkehr Königsbergs in der Regel zwar mit Hilfe von Eisbrechern, die von der Industrie und Handelskammer Königsberg betrieben wurden, aufrecht erhalten werden, so erwiesen sich doch in besonders harten Wintern, die keine Seltenheit waren, die Eisbrecher als ohnmächtig, so daß der Seeverkehr dann für kürzere oder längere Zeit völlig gesperrt werden mußte. Noch heute habe ich das dichte Scholleneis im Seekanal und in Pillau bei unserer Flucht über See Ende Januar 1945 vor Augen.

Die Sowjets als neue Gebietsherren nach 1945 sollen den Seekanal auf 9 m vertieft haben, zuverlässige und überprüfbare Unterlagen hierüber sind mir indessen nicht bekannt. Weitere Anpassungsmaßnahmen an den modernen Hochseeverkehr sind geplant; die endgültige Zerstörung der Fischhausener Wik durch den Bau leistungsfähiger Umschlaganlagen ist Bestandteil solcher Planungen.

Zwar bin ich kein Wasserbauingenieur, sondern Jurist. In meiner jahrzehntelangen Zugehörigkeit zur Wasser und Schiffahrtsverwaltung des Bundes die für den Verkehr auf den Bundeswasserstraßen und dessen Gewährleistung für den Bau und die Unterhaltung der Wasserstraßen zuständig ist, habe ich aber auch einen geschulten Blick für den Zustand der schiffbaren Gewässer erworben. Und so kann ich sagen, daß der Königsberger Seekanal gegenwärtig in keiner Hinsicht den anerkannt vorbildlichen Maßnahmen der einstigen preußischen Reichs oder heutigen Bundeswasserstraßenverwaltung standhalten würde.


Benutzte Literatur:
Robert Albinus, Lexikon der Stadt Königsberg Pr. und Umgebung
(1 Auflage) Leer 1985
Führer auf den deutscher Schiffahrtstraßen – 6. Teil: Das Weichsel Gebiet und die östlichen Schiffahrtsstraßen Von der Königlichen Weichselstrombauverwaltung in Danzig, Berlin 1914
Hans Heymuth, Deutschlands Städtebau Königsberg i.Pr., Berlin 1926
Prof. Dr. F. Mager, Ostpreußen Die natürlichen Grundlagen seiner Wirtschaft eine Quelle deutscher Kraft, Hamburg 1922
Oberbürgermeister Dr. Fritz Markmann, Die deutschen Wasserstraßen, Heidelberg Berlin Magdeburg 1958
P. Ostmann, Die Häfen im Deutschen Reich 1941, Berlin 1941





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