Heimat Bote Nr. 45

Kurz nach Kriegsende starben 7000 in dänischen Flüchtlingslagern

Man sah die deutschen Kinder als Feinde
Von Heike Stüben

Kopenhagen Die Grabsteine auf dem WestFriedhof in Kopenhagen gingen der dänischen Ärztin Kirsten Lylloff nicht mehr aus dem Sinn: Warum waren all diese Kinder so jung gestorben? Und warum trugen sie deutsche Namen wie Hannelore, Edith, Hartmut und Dieter? Kirsten Lylloff (63) begann zu recherchieren und deckte "das größte Verbrechen an der Menschlichkeit in der dänischen Neuzeit" auf: den Tod Tausender deutscher Flüchtlingskinder, die Opfer von Gleichgültigkeit und aufgestautem Hass wurden.

Gibt es eine Grenze für den ärztlichen Schwur? MUSS ein Arzt nicht ausnahmslos helfen? Dies fragt sich Kirsten Lylloff, eigentlich Fachärztin für Immunologie, als sie in den 1990ern beginnt, die Spuren der toten Kinder systematisch zu verfolgen. Auch die von der kleinen Margit: Springer; die. gut ein Jahr alt war, als sie im März 1945 auf einem Flüchtlingsschiff im Freihafen von Kopenhagen ankam. Das kleine Mädchen schien Glück zu haben: Die MassenEvakuierung der Bevölkerung aus den östlichen Reichsgebieten, die die Nazis in aller Stille eingeleitet hatten und die in wenigen Wochen 250000 Flüchtlinge an die dänischen Küsten spülte, hatte auch das kleine Mädchen mit dem dunklen Lockenkopf in Sicherheit gebracht. Keine Bombennächte mehr, keine Angst mehr vor den sowjetischen Truppen. Vor allem: Im Gegensatz zu 10 000 anderen deutschen Kindern, die mutterseelenallein in den letzten beiden Kriegsmonaten nach Dänemark kamen, hatte Margit ihre Mutter und drei Geschwister bei sich. Doch auch sie konnten Margits Leben nicht retten.
Während die elternlosen Kinder in vier spezielle Kinderlager gebracht wurden, wurde Margits Familie in eine ehemalige Schule in Kopenhagen transportiert. Die Lager standen zunächst unter Aufsicht der deutschen Besatzungsmacht. Die Lebensbedingungen vor allem für Kinder waren von Anfang an katastrophal: Mangelnde Hygiene und Nahrung machten die entkräfteten Kinder anfällig für Krankheiten wie Keuchhusten, Diphtherie und Masern. Viele litten an Durchfallerkrankungen und gerade die Jüngsten starben reihenweise an Auszehrung und Austrocknung. Auch die kleine Margit. In ihren Totenschein wurde am 11. April 1945 als Todesursache lapidar "EssStörung" eingetragen. Margits kleine Schwester starb wenige Tage später.
Der sinnlose Tod der Kinder entsetzte Kirsten Lylloff so sehr, dass sie sich von ihrer Stelle als Oberärztin beurlauben ließ, an der Universität Kopenhagen ein Geschichtsstudium aufnahm und. untersuchte, wie es mit den Flüchtlingskindern weiterging, als die dänischen Behörden mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 die Leitung der Flüchtlingslager übernahmen. Kirsten Lylloff wertete die Totenscheine aller deutschen Flüchtlingslager aus und kam zu dem Ergebnis: "Das Sterben der Kinder ging auch unter dänischer Verantwortung weiter. Ja; in den ersten Tagen nach der Befreiung war die Todesrate sogar am höchsten, weil man im Freudentaumel die Flüchtlinge offenbar vergaß."
Eine Flüchtlingsbehörde wurde eingerichtet, geleitet von Johannes Kjaerbel. Bewusst trennte er die Flüchtlinge weiter strikt von der Bevölkerung durch Stacheldraht und das Verbot, die Lager, zu verlassen oder gar Dänisch zu lernen. Laut Lylloff bekamen die Kinder während der ersten Nachkriegsmonate oft nur Schwarzbrot zu essen. "Die Kinderration hatte nur die Hälfte der benötigten Kalorien." Und wenn die Milch der Mütter wegen der Unterernährung versiegte, sei ihnen nur ein halber Liter Kuhmilch pro Säugung zugebilligt worden. "Weil die Dänen so wenig Kontakt wie möglich mit den Deutschen haben wollten, überließen sie die Verteilung der Nahrungsmittel der deutschen Lagerführung. Die Folge war, dass die Schwächsten jeden Tag ums Überleben kämpfen mussten", sagt Kirsten Lylloff, die inzwischen ihre Ergebnisse in einer Aufsehen erregenden Dissertation veröffentlicht hat. Ohne Not seien zudem etliche Kinder in ungeheizten Baracken untergebracht worden. "Und um Kinder zu disziplinieren, wurden sie in feuchten Bunkern ohne Licht eingesperrt. Das haben zwar deutsche Lagerleitungen gemacht, aber die dänischen Behörden griffen nicht ein."
Was Kirsten Lylloff besonders entsetzt, ist das Verhalten der Ärzte und Hilfsorganisationen. Zwar hatten 60 dänische Pastoren gegen die Bedingungen in den Lagern protestiert. Doch die einzige Folge war, dass gegen die Pastoren ermittelt wurde. Die dänische Ärztekammer weigerte sich ebenso wie das Rote Kreuz in Dänemark, den Flüchtlingen beizustehen, Krankenhäuser lehnten die Behandlung ab. "Das ist ein ganz dunkles Kapitel in unserer Geschichte", sagt Jörgen Poulsen, Generalsekretär des dänischen Roten Kreuzes, "wir beugen demütig unser Haupt, weil wir nicht fähig waren zu helfen. Die Arbeit von Kirsten Lylloff ist deshalb unglaublich wichtig." Der Ärztin geht es dabei nicht um moralische Verurteilung. "Aber wir können nicht länger stolz in den Geschichtsbüchern behaupten, wir hätten die Flüchtlinge gut behandelt. Und wir müssen uns fragen, warum wir durch Gleichgültigkeit und Unterlassung unschuldige Kinder, die oft durch Krieg und Tod der Eltern tief traumatisiert waren, haben sterben lassen: 7000 deutsche Kinder bis zu fünf Jahren haben unsere Lager nicht überlebt." Für Kirsten Lylloff hatte dies vor allem drei Gründe: "Man hat die deutschen Kinder nicht als Opfer gesehen, sondern als Feinde. Auf sie prasselte der Hass nieder, der sich während der Besatzung aufgestaut hatte. Dafür spricht auch, dass die Flüchtlinge aus Polen und dem Baltikum recht gut behandelt wurden. Zudem wollten die Politiker auf keinen Fall den Eindruck erwecken, man arbeite mit den Deutschen zusammen." Lylloff warnt allerdings wie der Kieler Experte für Flüchtlingslager, Uwe Carstens, davor, die Flüchtlingsdebatte zu vereinfachen. "Die Verhältnisse waren nicht in allen Lagern gleich. Nur wer die Geschichte korrekt beschreibt, kann aus ihr lernen." Und Prof. Claus Bryld vom UniZentrum Roskilde hofft, dass Lylloffs Forschungsarbeit zweierlei bewirkt: "Es ist höchste Zeit, dass wir das Bild von unserem Verhalten im Zweiten Weltkrieg revidieren. Und wir sollten versuchen, dass nicht wieder 50 Jahre vergehen, ehe wir anfangen zu diskutieren, wie wir mit den Flüchtlingskindern umgehen, die heute zu uns kommen."

Aus Kieler Nachrichten vom 22. 04. 2005.