Heimat Bote Nr. 47

Willy Hanemann

Kinder führen den Lehrer

Gewöhnlich führt der Lehrer, denn er hat die meiste Erfahrung. So kommen die Kinder zu der Überzeugung, der Lehrer wisse alles. Manche Pädagogen pflegen diesen Nimbus sehr. Wenn ihr Wissen doch einmal versagt, gebrauchen sie Ausreden oder weisen gar ab: Dumme Frage!

Mir war es in meiner Kindheit ebenso gegangen, und für mich stand der Lehrer schließlich unerreichbar hoch in den Wolken. Bei meinen Kindern aber sollten keine Minderwertigkeitsgefühle aufkommen. Deshalb gab ich besonders gute Zensuren, wenn mir von Kindern Irrtümer nachgewiesen wurden. Dadurch wuchs das Vertrauensverhältnis, und das ist ja schon eine Vorstufe zum Unterrichtserfolg.
Gerade jetzt am Neuanfang im fremden Dorf ergaben sich gute Gelegenheiten, die Kinder in die Rolle der Lehrenden hineinzumanövrieren. Sie freuten sich, wenn sie mich belehren durften.

Kinder, die sonst aus ihrem Unvermögen heraus kaum zum Sprechen zu bringen waren, wurden lebendig, wenn ich in ihrem Dorf nicht Bescheid zu wissen schien. Sie erklärten und wiesen auf das hin, was ihnen wichtig erschien. Am schönsten war es auf den Rundgängen durch das Dorf. Da führten sie mich zu den Grundstücken, nannten die Bewohner und machten sie mit "ihrem" Lehrer bekannt.
Gleich am Anfang wanderten wir so einmal nach Elenskrug. Schon in Widitten fingen die Kinder an: "Da wohnt Emil Köck, da wohnen Gablowskis, da Ockels, dort um die Ecke Krämers und Grolls." An der Schmiede zeigten sie den "Grauchenbaum" des Herrn Sager, der ihnen gern von den wohlschmeckenden Birnen abgab. Dann kam das Grundstück vom Bauern Wenk, dem Bruder des Gastwirtes Hermann Wenk gegenüber der Schule. Am Einwohnerhaus vorbei führten sie mich an einen Nebenweg beim Bauern Albert Köck und zeigten den merkwürdigen Weidenbaum, auf dem eine armdicke Birke wuchs. Am Anfang des Waldes lag ein kleiner Kirchhof, auf dem nur ein Grab war, ein Angehöriger der Familie Bobeth. Die anderen Toten mussten ja nach Großheidekrug zum Friedhof der Kirchengemeinde. Auf der Wanderung durch den Fichtenhochwald gab es viel zu erklären. Eine Weile hielten wir uns bei den Holzhauern auf. Der Förster Zeisig erklärte, wie das Holz vermessen und zerschnitten wurde. Einige Jungen machten selbst Messungen mit dem "Storchschnabel" und freuten sich, dass sie mehr kannten als ihr Lehrer. Der Förster ging dann mit uns zu sich nach Hause.
Als wir auf der letzten Höhe vor Elenskrug ankamen, erblickten wir den kleinen Waldort, mitten darin den ehrwürdigen Krug aus dem Jahre 1665. Daneben wohnten nur zwei Bauern einander gegenüber, weiter hinten im Kanalwärterhäuschen Magdas Vater. Als wir von der sandigen Höhe zum Ort hinabstiegen, sahen wir am Wege drei Rieseneichen. "Vater, Mutter und Kind", erklärten die Kinder. Wieviel Jahrhunderte mochten diese Bäume schon gesehen haben! Als die Straße später ausgebaut wurde, musste sie um die drei Bäume einen Bogen machen. Man wollte die alten Zeugen nicht opfern, lieber ließ man eine Kurve herumlegen. Der kleinste fiel dann doch.

An der Laukebrücke gab es auch allerhand zu sehen. Damals spielten noch Fische auf dem flachen Grunde. Später sind sie dann durch die Abwässer von Königsberg alle vergiftet worden.
Hier wollte ich zur Försterei abbiegen, aber die Kinder bestanden darauf, noch den "Stelzenbaum" zu zeigen. Er stand am Königsberger Kinderheim am Wege nach dem Bahnhof Powayen. Eine gewaltige Kiefer war unten durch den Zugwind abgedeckt worden, so dass die Wurzeln frei zur Seite standen. Sie waren dann wieder im rechten Winkel zur Erde hineingewachsen, und so hatten sich Sitze gebildet, auf denen alle Kinder Platz hatten.

Das Kinderheim wurde nun auch gleich besichtigt, und dieser Bekanntschaft hatte ich kurz darauf bei der Auflösung des Heimes den billigen Erwerb von kleinen Tischen, Stühlen und Liegebetten zu danken. Sie dienten später zur Ausstattung der Waldschule unter der großen Schullinde.
Der Förster war inzwischen nach Hause gegangen, um sich auf den Besuch vorzubereiten. Der Förster Zeisig und seine Frau, eine geborene Pelikan, hatten schon eine Menge Geweihe herausgebracht: Spießer, Gabeler, Sechsender und andere, auch Elchschaufeln. Eingehend erklärte der Förster diese Dinge, dann führte seine Frau die Schar zum großen Backofen außerhalb des Gehöftes. Früher wurden diese Backöfen meist außerhalb der Gebäude erbaut, weil die Strohdächer eine große Gefahr bei dem Feuer bildeten. Es mussten aber auch allerhand Brote da hineingehen. Jetzt wunderten sich die Kinder nicht mehr darüber, dass oft reisende Handwerksburschen in den warmen Ofen übernachtet hatten, und dass die Hexe von Hänsel und Gretel in einem Backofen Platz hatte. Auch im Backofen der Försterei waren schon Übernachtende angetroffen worden.

Durch den schönen Hochwald wanderten wir zur Südostecke wo das Laukefließ in das Haff mündet. Ich staunte, wie sich die Kinder in dem Gewirr von Bäumen und Unterholz zurechtfanden. Sicher waren sie schon hundertmal hindurchgewandert, wenn sie Pilze oder Heidelbeeren suchten.
Auf dem Zimmerbuder Weg ging es dann wieder ins Dorf zurück, am Fischerviertel vorbei, das etwas abseits lag, dann am Armenhaus vorüber zur Schule.
Müde aber froh nahmen die Kinder Abschied, hoch befriedigt, dass sie mir etwas hatten zeigen können, das ich nicht gekannt hatte. "Nächstes Mal müssen wir durch Marschenen wandern", sagte ich, "dann zeigt ihr mir, was es dort Merkwürdiges gibt." - Für sie war alles merkwürdig.

Aus dem Buch "Widitten 1929 bis 1945 –
Der Schulmeister erinnert sich"




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