Heimat Bote Nr. 48

Hannelore Schneider, geb. Osmialowski

Kindheitserinnerungen

Am 18. Januar 1935 wurde ich als erstes Kind von Horst Osmialowski und Frieda, geb. Waschkuhn in Großheidekrug, 18 km von Königsberg entfernt, geboren. Wie jeden Winter in Ostpreußen soll es im Januar sehr kalt und schneereich gewesen sein. Bis Juli 1943 kamen noch fünf Geschwister, drei Mädchen und zwei Jungen dazu.
An die Zeit, an die ich mich zurückerinnern kann, war ich wohl vier bis fünf Jahre alt. Meine Schwester Margret und ich gingen in den Kindergarten zu Tante Käthe (Blank). Wir gingen durch den Garten mit vielen großen Bäumen der Gastwirtschaft Czeslick zum an der Hauptstraße gelegenen Kindergarten, daran kann ich mich noch gut erinnern. Wir wohnten im Haus meiner Großeltern auf der hinteren Hofseite an der Haffstraße.
Erzogen wurden wir Kinder von der Oma Auguste und der Tante Hanne. Meine Mutter hat viel auf dem Hof meiner Großeltern geholfen. Mein Vater war auf dem Flugplatz Seerappen als technischer Zeichner beschäftigt. Im Alter von fünf bis sechs Jahren war ich mit meiner Schwester Margret häufig zu Besuch bei meiner Oma Osmialowski in Königsberg. Die Oma nannten wir nur "Oma Stadt", im Gegensatz zur Oma in Großheidekrug, die wir nur "Oma Land" (Waschkuhn) nannten.
Mit unserem Onkel Kurt, Bruder meiner Mutter, sind wir im Winter öfter mit dem Kutschenschlitten durch den verschneiten Wald gefahren, hintendran wurden noch bis zu fünf kleine Schlitten angehangen. Es ging weit durch den Wald. Meine zwei jüngeren Schwestern und ich wurden in einen dicken Pelzsack gesteckt, es war wunderschön warm da drinnen.
Hinter unserem Garten war eine große Wiese, Bullenwiese genannt. Im Sommer grasten dort Rinder und Bullen, im Winter war die kleine Wiese eine tolle Eisflache, auf der manchmal noch Wasser stand. Dort sind viele Kinder aus dem Dorf Schlitten gefahren. Mit einem langen Stock, unter den ein Nagel geschlagen war, haben wir uns abgestoßen.
Wenn wir dann nach Hause kamen, waren wir so nass, dass wir alle Kleider ausziehen mussten. Es war eine schöne Zeit. Diese Erinnerungen werde ich nie vergessen.
Dann gab es auch noch den "Peters-Berg", von dem wir Kinder, aber auch Jugendliche mit dem Schlitten bis hinunter auf das Eis zum kleinen Haff gefahren sind. Von irgendwoher wurde das ganze auch noch beleuchtet. Es war herrlich bis weit in die Dunkelheit hinunter auf das Eis zu fahren, bis uns unsere Mutter abholte, es war ja gar nicht weit von unserem Haus.
Im Sommer ging es oft zum Schwimmen an den großen Badestrand an der Signalstation vor Deppens. In den Sommermonaten kamen samstags und sonntags viele Gäste mit dem Schiff aus Königsberg, um in Höllgers Gasthaus einen schönen Tag zu verbringen. Dieses große Restaurant mit seinem Palmengarten und dem Biergarten unter uralten Bäumen war wunderschön.
Auf dem Weg vom Hafen zum Restaurant kamen die Gäste mit einer Musikkapelle an unserem Haus vorbei. Meine Schwester, Freundinnen und ich standen dann mit kleinen Blumensträußen am Haus und verkauften sie an die Gäste. Das eingenommene Geld wurde für Eis oder Süßigkeiten ausgegeben.
Linke Lieschen hatte neben unserem Haus eine Eisdiele und ein kleines Lebensmittelgeschäft. Unmittelbar neben Linke Lieschen war schon Höllgers Restaurant, und wir Kinder schauten den Tänzern durch die Scheiben des Wintergartens beim Tanzen zu. Auch im Sommer war es herrlich in unserem Dörfchen Großheidekrug am Frischen Haff. Ich kann sagen, dass ich bis zu meinem neunten Lebensjahr eine sehr schöne Kindheit hatte.

Jugendbild 1944
Frieda Waschkuhn und Horst Osmialowski

Oma und Opa Osmialowski
mit Sohn Horst, meinem Vater

Eheleute Omialowski mit
Hannelore, Margret und Gerda
Hannelore, Margret, Gerda, Lothar, Traudel
und Werner, Herbst 1944

Dann kamen die Schrecken des Krieges auch nach Ostpreußen. Einen ersten Luftangriff auf Königsberg, ich war gerade Mal wieder bei meiner Oma zu Besuch, habe ich noch gut in Erinnerung. Meine Oma weckte mich mitten in der Nacht, und wir mussten ganz schnell in den Luftschutzkeller. Auch beim zweiten großen Luftangriff im August 1944 war ich wieder bei meiner Oma in Königsberg, diesmal mit meiner Schwester Gerda. Es war wohl der schwerste Luftangriff auf Königsberg. Auf dem Weg zum Luftschutzkeller sahen wir die "Christbäume" am Himmel. Meine Mutter und die Großeltern sahen von Großheidekrug aus wie Königsberg brannte.
Am nächsten Tag ist meine Oma mit uns zum Bahnhof gegangen, aber es fuhr kein Zug mehr. Wir haben dann doch noch einen Bus bekommen, der nach Großheidekrug fuhr. Meine Mutter war gleichzeitig voller Sorge nach Königsberg gefahren, um uns zu suchen, aber sie fand uns nicht, denn zu dieser Zeit waren wir schon in Großheidekrug. Sie rechnete schon mit dem Schlimmsten. War das eine Freude als sie nach Hause kam und uns unversehrt vorfand!
Mein Großvater und auch mein Onkel waren in Pillau beim Wasserstraßenbauamt beschäftigt. Als die russische Armee immer näher rückte, hieß es, wir könnten mit einem Schiff flüchten und in den Westen gelangen. Aber mein Großvater sagte, die Flucht meiner Mutter mit sechs kleinen Kindern, das jüngste war gerade erst eineinhalb Jahre alt, dazu meine Tante mit drei Kindern, die Großeltern und einer weiteren Tante wäre doch mit zu vielen Strapazen und Risiken verbunden. Auch über das Eis des Frischen Haffs zu gehen, schien ihm zu gefährlich. Er glaubte auch nicht den Propagandareden der Nazis und war der Meinung, dass es schon nicht so schlimm werden würde. So erwarteten wir den Einmarsch der Russen im Keller unserer Waschküche, die etwas entfernt von unserem Wohnhaus stand. Einige Tage zuvor wollte mein Onkel noch mit dem Schiff weg, und ich sollte ihn mit dem Schlitten und dem Gepäck zum Hafen bringen. Das muss wohl Anfang Januar 1945 gewesen sein, kurz vor meinem zehnten Geburtstag.
An diese Fahrt kann ich mich noch gut erinnern. Der Hafen war ja nicht weit von unserem Haus entfernt. Auf dem Schlitten hatte ich den Seesack meines Onkels liegen, über uns kreisten deutsche Flugzeuge, die das Einsteigen der Flüchtlinge beobachteten. Auf dem Rückweg, es waren noch mehrere andere Leute unterwegs, die ihre Verwandten zum Schiff begleitet hatten, kreisten wieder Flugzeuge über uns, diesmal jedoch waren es russische Maschinen, die uns Menschen von oben herab gesehen hatten und uns beschossen. Auf dem kurzen Weg nach Hause habe ich mich bestimmt zwanzig Mal auf den Boden geworfen bis ich endlich zu Hause war. Das sind meine Kindheitserlebnisse bis zum Einmarsch der Russen, vierzehn Tage nachdem ich zehn Jahre alt geworden war.

In den letzten beiden Monaten hatten wir wegen heftiger Luftangriffe die meiste Zeit in einem selbstgebauten Erdbunker und im Keller verbracht. Mein Großvater brachte uns die Nachricht vom Einmarsch der Russen in den Keller.
Da hatten ihm die Russen auch schon die Taschenuhr abgenommen. Sie fragten auch gleich nach Frauen. Meine Mutter war damals fast 32 Jahre alt. Jetzt und auch später warfen wir sechs Kinder uns auf unsere Mutter, so dass sie dem schlimmen Schicksal der Vergewaltigung entging. Es dauerte nur zwei bis drei Tage, dann wurden wir von Haus und Hof bei tiefem Schnee und eisiger Kälte vertrieben. Wir hatten nur wenig Zeit, einige Sachen auf den Pferdewagen zu verladen, das Vieh und unsere gesamte Habe mussten wir zurücklassen. Nur ein paar Lebensmittel, die wir vorher in Milchkannen verpackt hatten, konnten wir mitnehmen.
Die Russen vertrieben uns in Richtung Nord-Osten, ohne Ziel und ohne Hoffnung von einem Dorf zum anderen. Mit zwei Pferden und einem großen Wagen sind wir weggegangen, aber schon nach zwei Tagen haben uns die Russen die Pferde ausgespannt und mitgenommen. Meinen Großvater, damals 67 Jahre alt, haben uns die Russen auch noch weggenommen. Das vermag man sich kaum vorzustellen, was das für meine Mutter bedeutete mit sechs kleinen Kindern, der Großmutter und einer taubstummen Tante Tag für Tag und von Ort zu Ort immer weiter vertrieben zu werden. Am nächsten Tag haben wir noch meine Tante mit drei Kindern getroffen, somit waren wir ab da mit neun Kindern, meiner Mutter, der Oma, der Tante und der Großtante unterwegs.
Es kamen dann immer mehr Menschen dazu, so wurde es ein großer Treck tausender Menschen. Die Nächte verbrachten wir in Scheunen oder zerbombten Häusern. Diese Nächte waren sehr schlimm. Ich weiß noch genau, wenn die Frauen und Mütter immer wieder von den Russen herausgeholt und vergewaltigt wurden und ganz schrecklich wieder zurückkamen. Es waren nicht nur einfache Soldaten, sondern auch Offiziere. Meine Mutter hatte Glück, wenn Soldaten kamen, haben alle sechs Kinder über unserer Mutter gelegen. Manche Frauen kamen auch gar nicht mehr zurück. Weil sie sich gewehrt hatten, wurden sie einfach erschossen.
Dieser Treck, zu dem noch viele andere Dorfbewohner gehörten, ging bis hinter Labiau am Kurischen Haff, nahe der heutigen Grenze zu Litauen. Jeden Abend gab es einen Kampf ums Essen und Trinken. Von den Russen bekamen wir weder zu essen noch zu trinken. So machten sich die Oma, die Tante mit ihrem Sohn (11) und meine Mutter, abends, wenn wir in einem Dorf Halt machten, auf die Suche nach etwas Essbarem in den verlassenen Häusern und Kellern. Das war sehr schwierig, denn es waren viele Menschen unterwegs, die alle Hunger hatten. Manchmal konnte unsere Mutter und auch andere von den im Schnee stehenden Kühen etwas Milch melken. Sie durften sich aber nicht erwischen lassen, sonst wurde geschossen.
Die Russen haben immer, ich glaube 100-150 Personen, in ein Dorf geführt, die anderen auf die nächsten Dörfer verteilt. Viele Dorfbewohner überstanden die Strapazen nicht und starben unterwegs. Sie wurden einfach im Schnee der Straßengräben liegengelassen, denn die Russen trieben uns ständig zum Weitermarsch an. So ging es von Anfang Februar bis zum 8. Mai, als es hieß: "Woina kaput" (deutsch: der Krieg ist zu Ende) und wir uns selbst überlassen wurden.
Wir sind dann wochenlang gegangen bis wir wieder zu Hause waren. Insgesamt waren wir fast vier Monate unterwegs. In der ganzen Zeit konnten wir uns nicht richtig waschen oder die Kleider wechseln, denn wir hatten nur das, was wir anhatten, als wir vertrieben wurden. Natürlich waren wir alle verlaust.
Als wir wieder nach Hause in unser schönes Dörfchen Großheidekrug kamen, war es durch die Bombenangriffe fast völlig zerstört. Vorher war Großheidekrug ein Ausflugsort, wohin zahlreiche Königsberger ihre Dampferfahrten machten. Auch unser Haus und das der Großeltern war ein einziger Schutthaufen. Sogar die im Garten versteckten Sachen waren nicht mehr dort. Russische Soldaten und früher nach Hause zurückgekehrte Dorfbewohner hatten sie mitgenommen. Das Dorf war sehr umkämpft worden, es wurde sogar noch einmal für kurze Zeit von deutschen Truppen eingenommen.
Wegen der Unbewohnbarkeit unserer Häuser mussten wir uns mehrmals eine andere Bleibe suchen und fanden in einem anderen von den Hausbewohnern verlassenen Haus Zuflucht. Doch auch diese Häuser waren von Bomben stark beschädigt worden, so dass es an vielen Stellen durchregnete. Es gab kaum etwas zu essen, denn offiziell gab es - nichts, und neun Kinder, die Mutter, die Großeltern (der Großvater war wieder bei uns), Tante und Großtante brauchten schon viel. Wir lebten vielfach von den Abfällen der Russen. Im Sommer, als das noch von den Deutschen gesäte Getreide heranwuchs, holten wir uns Ähren von den Feldern, mahlten sie und kochten Suppe daraus. Meine Mutter und meine Tante Lisbeth wurden immer wieder von den Russen verhört, sie sollte in der Frauenschaft gewesen sein. Man kann sich wohl vorstellen, dass eine junge Frau von 32 Jahren, die für sechs Kinder zu sorgen hatte, keine Zeit hatte, auch noch politischen Aktivitäten nachzugehen. Dann wurden meine Mutter und meine Tante eingeteilt, tote Menschen und Tiere, die vom Haff angetrieben wurden, zu bergen und zu vergraben.
Die Großeltern hatten gemeint, die Hitlerzeit ist jetzt zu Ende, und es würden mit Kriegsende bessere Zeiten anbrechen. Als sie dann jedoch mitbekamen, dass die eigenen Dorfbewohner sie bei den Russen verrieten, als sie sich aus zerbombten Häusern noch etwas zu essen herausholten, war die Enttäuschung besonders groß. Ende 1946 verstarben meine Großeltern an Hunger und Krankheit. Ärzte gab es ja keine. Die taubstumme Tante war bereits während der Vertreibung verstorben.
Als es im Herbst 1946 in Großheidekrug nichts mehr zu essen gab, gingen meine Mutter und meine Tante mit neun Kindern in den Nachbarort Peyse. Dort hatten die Russen eine Fischfabrik eingerichtet, und meine Mutter wurde dort zur Arbeit eingeteilt. Es gab dann schon mal Fisch und auch eine Brotzuteilung, aber nur für diejenigen, die arbeiteten, für Kinder - nichts. Doch manchmal wurde Fisch im Büstenhalter mit nach Hause genommen.
Doch für meine Tante und deren zwei Söhne kam jede Hilfe zu spät, sie erkrankten an Ruhr und kamen nicht mehr zu Kräften. Zuerst starb meine Tante, sie musste schwerste Waldarbeiten verrichten, ohne sich jemals satt essen zu können. Dann starben ihre beiden Söhne kurze Zeit später. Zuerst Heinz (5), dann Erwin (11 oder 12). Die Tochter Elfriede (16) meiner Tante wurde dann noch bei uns aufgenommen und blieb bei uns bis wir in Bonn waren. Anfang 1947 bekamen drei meiner Geschwister, Gerda (6), Traudel (4) und Lothar (8) die Ruhr und verstarben kurz hintereinander. Es gab ja keinerlei Medikamente und keinen Arzt. Ein russischer Offizier stellte den Totenschein aus. So waren innerhalb kurzer Zeit acht Angehörige verstorben. Es war Winter, es gab keine Särge, so wurden die Toten in Decken eingepackt und mit einem Handwagen zum Friedhof gefahren und dort abgelegt, denn der Boden war hart gefroren und meine Mutter war zu schwach um ein Grab auszuheben.
Vielleicht sind die Toten später von den Russen begraben worden, ich weiß es nicht. Im Herbst 1947, vielleicht im Oktober, und nach fast drei Jahren unter russischer Herrschaft, wurde der Ort Peyse von Deutschen geräumt, heute nennt man das ethnische Säuberung oder aber auch, sogar von hohen deutschen Politikern, Umsiedlung. Und wir wurden wieder vertrieben.
In Viehwagen wurden wir verladen, zunächst ohne unser Ziel zu kennen, aber dann ging es in tagelangen Fahrten Richtung Westen in die DDR.
Mitnehmen konnten wir nichts, außer ein paar Fotos. Für meine Mutter hatte das ihr Leben lang Auswirkungen, denn Papiere über ihre Berufstätigkeit vor, während und nach dem Krieg hatte sie nicht mitnehmen können, so dass sie eine niedrigere Rente erhielt, da sie diese Zeiten nicht nachweisen, sondern nur glaubhaft machen konnte. Aber wir waren froh, den Westen erreichen zu können, wenn es auch nur die DDR war, denn auf dem Transport verstarben noch einige der Vertriebenen.
Vom Sommer 1947 zu Hause möchte ich noch etwas schildern: Als sich nach fast drei Jahren Russenherrschaft die Lage ein wenig entspannte, fuhren mit russischen LKW einige Frauen aus Peyse mit Fischen auf den Markt nach Königsberg.
Eines Tages kam ein Mann zu diesen Frauen und fragte sie, woher sie kämen. Aus Peyse war die Antwort. Der Mann wollte wissen, ob jemand aus Großheidekrug dabei wäre und wollte wissen, ob jemand Frau Osmialowski, geb. Waschkuhn kenne. Sie selbst, Frau Holstein, war aus Großheidekrug gebürtig und wohnte jetzt in Peyse neben uns. Dieser Mann war mein Onkel Kurt Poerschke, der früher als Musiker beim Stadttheater Königsberg tätig war. In der darauf folgenden Woche nahm mich Frau Holstein mit auf den Markt, denn sie hatte mit meinem Onkel eine Zeit ausgemacht, zu der wir uns treffen konnten. Mein Onkel war dort in einem Gefangenenlager und wir trafen uns dort in der Mittagspause.
Ich konnte ihm nur von meiner Familie berichten, davon, dass drei meiner Geschwister gestorben waren, auch die Tante Elisabeth mit zwei ihrer Söhne, die Großeltern, die Oma Stadt und die taubstumme Tante. Von seiner Frau, meiner Tante Lilli, Schwester meines Vaters und den drei Kindern, wusste ich nichts, denn sie wohnten schon ein paar Jahre in Elbing, wo er im Orchester des Theaters tätig war.
Er teilte die dünne Suppe, die es da gab und ein Stückchen Brot mit mir. Wir haben beide sehr geweint als wir uns wieder trennten. Mein Onkel ist viel später aus der Gefangenschaft gekommen als wir. Wir haben uns erst in den 60er Jahren wieder gesehen.
Nach dem tagelangen Transport im Viehwagen wurden wir in das Lager Bitterfeld gebracht. Dort waren wir zwei bis drei Monate, dann kamen wir nach Zeitz. Meine Mutter und wir drei Kinder, sowie meine Kusine, wurden zu einer Familie eingewiesen, die uns ein Zimmer abgeben musste. Das Zimmer war, bis auf einen Ofen, für den es kein Brennmaterial gab, leer. So schliefen wir auf dem Fußboden, bis wir von der Stadt Strohsäcke und Decken erhielten.
Zu Weihnachten wurden wir von der Baptisten-Gemeinde in Zeitz eingeladen. Zu unserem großen Erstaunen war der Prediger Oskar Clemens, der in Großheidekrug die Baptisten-Gemeinde betreute. Auch er war noch eine Zeit lang unter russischer Herrschaft in Großheidekrug geblieben. Wann er nach Zeitz kam, ist mir nicht bekannt. Er gab uns einige Sachen zum Anziehen und den Kindern Weihnachtstüten.
Mutter ging zu den Behörden und zum Roten Kreuz, um herauszubekommen, ob unser Vater noch lebt. Sie hatte Glück, mein Vater war in englischer Gefangenschaft gewesen und hatte auch einen Suchantrag gestellt. Er lebte in Bonn, wo er zuletzt als Soldat auf dem Venusberg bei der Flak war. Dann ging alles sehr schnell, mein Vater holte uns in Zeitz ab. In der Silvesternacht 1947/1948 kamen wir in Bonn an. Mein Vater hatte in Bonn eine gute Bekannte, die uns aufnahm. Diese nette Witwe gab uns in Bonn-Kessenich ein Zimmer ab und so bekamen wir dort in der Sandtstraße ein neues Zuhause.
Mein Bruder war erst vier Jahre alt, als wir aus Ostpreußen herauskamen, meine Kusine, inzwischen siebzehn Jahre alt, bekam eine Anstellung in einem Haushalt.
Auch Bonn war durch Bombenangriffe stark zerstört, jedoch ging es nun, zwar langsam, aber stetig aufwärts und wir schöpften wieder Hoffnung.
Dann mussten meine Schwester und ich auch wieder in die Schule gehen. Wir hatten seit Sommer 1944, also über dreieinhalb Jahre keine Schule mehr gehabt, da war viel nachzuholen. In der Nikolausschule bzw. der Karl-Simrock-Schule in Kessenich trafen wir auf sehr nette und verständnisvolle Lehrer und Lehrerinnen, und so haben wir trotz allem den Abschluss geschafft. Auch von den Mitschülern und -Schülerinnen sind wir gut aufgenommen worden, und nie als Außenseiter gehänselt oder gemobbt worden. Wir sind auch nie gefragt worden, wie noch kürzlich geschehen, ob wir in Ostpreußen überhaupt Deutsch gesprochen hätten.
Nach der Schule habe ich eine kaufmännische Lehre absolviert.
Ich blicke auf eine schöne Zeit in Bonn zurück. Die Kindheit, die Schule und viele Freunde in Bonn werde ich nie vergessen. Noch heute finden regelmäßige Treffen mit ehemaligen Schulkameraden statt.
1956 habe ich geheiratet, wir haben einen Sohn und eine Tochter, die beide Lehrer sind. Der Sohn hat zwei Kinder, die Tochter hat vier Kinder. Wir haben ein schönes Haus in Rheinbach bei Bonn, in dem wir seit 1963 wohnen.



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