Heimat Bote Nr. 50

Brief von Karlhans Gerwien an seinen Schwager Werner Lappöhn

Unsere Flucht
Greifswald Wieck, den 14.2.1945

Lieber Werner!
Heute muß ich nun endlich der traurigen Pflicht nachkommen und Dir mitteilen, daß wir am 31. Januar Haus und Hof verlassen mußten, um unser Leben und das Leben unserer Kinder in Sicherheit zu bringen. Niemals hätten wir so etwas für möglich gehalten, und noch eine Stunde vor dem schweren Entschluß zur Flucht glaubten wir daran, daß es der Wehrmacht doch noch gelingen würde, einen Sperrriegel zwischen Königsberg und Cranz aufzubauen. Aber auch diese Hoffnung ging vorüber.



Ich sah die Katastrophe kommen, denn ich war noch am Tage vorher aus der HKL zurückgekommen, wo ich mit dem Volkssturm war. Die Absetzbewegungen gingen zu schnell, so daß wir Krüppel und die alten Männer kaum folgen konnten. Gott sei Dank wurden ich und Czeslick so rechtzeitig entlassen, daß wir noch Zeit hatten, unsere Familien fortzuschaffen.

Abends am 30. 1. gegen 10 Uhr hörten wir die Detonationen der Sprengung des Flugplatzes Seerappen. Auch das Artilleriefeuer und die kurzen Abschüsse der Pak und Panzer kamen näher und wurden deutlicher. In allen Lokalen in Großheidekrug herrschte Hochbetrieb - allerdings ohne uns. Die Wehrmacht benutzte Großheidekrug als Auffang für 4000 Verwundete, die von Königsberg zu Fuß bei Schneesturm und 15° Frost nach Großheidekrug marschieren mußten. Dazu kamen zehntausende von Königsbergern, die mit Rodelschlitten an der Hand die Chaussee entlang nach Pillau flüchteten und sich in Großheidekrug erholen und stärken wollten. Es war ein Jammer, wenn man das alles so sah. Trotzdem hofften wir noch auf eine Wendung. Czeslicks waren auch bei uns, und wir beratschlagten hin und her, was zu tun sei. Um 24 Uhr trennten wir uns, um den morgigen Tag zu erwarten. Inzwischen sah ich aber schon immer mehr Troßfahrzeuge kommen. Dein Vetter Petschulies aus Liebenfelde, der auch bei einem Troß ist, kam bei uns noch unter. Plötzlich gegen ein Uhr morgens wurden alle Trosse alarmiert. Auch das Lazarettpersonal setzte sich nach Pillau zu in Bewegung. Ich lief zur Hauptstraße, und dort war ein nicht abreißender Zug von Fahrzeugen und Kraftwagen in Richtung Pillau. Dort hörte ich auch, daß der Russe schon vor Seerappen steht.

Zu Hause fand ich den Saager vor. Der Ortskommandant hatte ihm gesagt, daß es Zeit sei, zu türmen. Ich sagte der Edith, sie solle sich fertig machen, und Czeslicks sagte ich es auch. Wir hatten verabredet, mit dem PKW zu flüchten, und Czeslicks sollten dazu Benzin geben. Wir hatten ca. 200 l bei uns. Den Puschke ließ ich wecken und ließ ihn den Wagen anspannen und drei Pferde. Mit ihm fuhr noch Saagers Familie.
Es ging alles so sehr schnell. Was in den Weg kam, wurde zusammengerafft und in den Anhänger gepackt. Alles lief durcheinander. Im Haus konnten wir selbst uns kaum bewegen. In allen Zimmern und Räumen trieben sich schon Fremde herum. Du kannst Dir das nicht vorstellen. Zuerst dachten wir natürlich an Kleidung und Lebensmittel. Aber was sollte man nehmen - was nicht? Dazwischen kam wieder der Siegfried angelaufen und trieb zur Eile, weil die Straße sich immer mehr verstopfte, und weil erst die Wehrmacht durchgelassen wurde und Gefahr bestand, daß wir zurückbleiben mußten. Es war größte Hast. Die Traute und der Jakob (ein Ukrainer/Russe – Fremdarbeiter) waren schon losgezogen, ohne was zu sagen.


(Datum der Postkarte 22.7.1914)

Endlich war der Anhänger beladen. Der Siegfried mußte auch noch rauf, und dann ging es los ins Ungewisse. Wir fuhren über Widitten und Zimmerbude und Neplecken nach Fischhausen. Am Schlachthof wurden wir angehalten und mußten auf eine Haffwiese. Es wurde kein PKW ohne Durchlaßschein durch Fischhausen durchgelassen. Den besorgten wir uns von der Kreisleitung, die auch schon in Fischhausen lag. Als wir aus Fischhausen raus wollten, wurden wir wieder angehalten, weil kein Wagen nach Pillau weiter durfte. Aber wir redeten uns raus, daß wir nicht wenden konnten und den Weg hinter den Bahngleisen nach Fischhausen wieder einbiegen wollten. Ich gab aber Gas und haute ab.

Dann kam der gefährlichste Augenblick. Bei Lochstädt wurden wir wieder aufgehalten und mußten in einen Nebenweg rein. Hier sollten wir aussteigen. Die Frauen und Kinder sollten mit Handgepäck von einem Omnibus nach Pillau geholt werden. Die Wagen sollten zusammengeschoben werden und gesprengt werden. Aber auch hier gelang es uns unter größten Schwierigkeiten und trotz Posten noch mal rauszukommen, so daß wir dann am Vormittag um 11 Uhr, also nach neun Stunden Fahrt in Pillau eintrafen.

Wir kamen dort bei Schulz unter, einem Neffen von Schmoller, wo schon Schaukas waren. Schulzens selbst waren auch schon geflüchtet. Nun war die Frage, wie kommen wir weiter? Wir hatten es uns ja vorgenommen, mit dem Wagen über die Nehrung zu entkommen. Aber es bestand keine Übersetzmöglichkeit. Auch stellte es sich später heraus, daß jeder Wagen angehalten und beschlagnahmt wurde.

Nun hieß es, ein Schiff besorgen, das uns aus Pillau rausbrachte. In Pillau lagen ca. 100.000 Menschen, die auf Abtransport warteten. Männer durften mit den Dampfern gar nicht mit. Es waren meist Frachtdampfer. In den Laderäumen war Stroh, und da wurden die Flüchtlinge wie Heringe verpackt Zum Hinlegen war kein Platz. Die Geschäfte wurden im Stroh, wo man saß, verrichtet. Frauen und Kinder schrien und brüllten wie Vieh. Unterwegs starben Säuglinge und alte Menschen. Frauen sprangen vor Verzweiflung über Bord. Ich hatte nun Glück, daß ich für uns alle einen Platz auf einem Minensuchboot der Marine erwischen konnte. Unsere Habseligkeiten waren bald verstaut, und am nächsten Morgen ging es vom Wasserstraßenamt aus los.

Beim Wasserstraßenamt ließ ich auch den Wagen mit schwerem Herzen stehen. Auf der Fahrt dahin traf ich auch unser Fuhrwerk, das von Neplecken übers Eis nach Pillau gekommen war. Den Puschke konnte ich nicht mehr sprechen, weil ich in der Kolonne fuhr und weiter mußte. Ich hätte noch mal alle Weisungen dem Puschke einhämmern können. Soviel erfuhr ich noch später, daß die Soldaten in Neplecken den Schober und die Lilli gestohlen haben. Der Puschke hat sich darauf aus dem nächsten Stall ein anderes Pferd geklaut und ist abgehauen.

Die Minensuchboote fuhren im Verband, und in den Booten waren viele Frauen der Hafenbauer mit, darunter Schröders Berta. Die war erst im Laufe des Tages abgehauen, und da schoß die russische Artillerie schon in Großheidekrug rein. Von anderen hat sie wieder gehört, daß Großheidekrug lichterloh gebrannt hat. Genaues war nicht zu erfahren. Es sollen viele Menschen im Dorf zurückgeblieben sein. Frau Harbecke wollte auch zurückbleiben.
Bei Seerappen wurde ein Zug angehalten. Alle Männer, ob Soldat oder Zivilist, wurden heraus genommen und sofort erschossen.

Der Ortsgruppenleiter Link fand in Zimmerbude keine Unterkunft, da hat er erst seine Frau, dann sich selbst erschossen. Die Menschen waren alle irr.
Die Minensucher brachten uns bis Gotenhafen. Wir fanden auch dort zunächst Unterkunft bei der Marine in der Wetterwarte. In Gotenhafen war Standrecht für alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren, die ohne Genehmigung weiterreisten. Ich bekam diese sofort, und auch Siegfried bekam sie nach viel Angst und Schwierigkeiten. Wir hatten nun insofern wieder Glück, daß es mir gelang, für die Weiterreise einen Seeschlepper zu erwischen, der uns bis Swinemünde brachte. Von dort aus fuhren wir mit der Bahn nach Greifswald, wo wir bei meinen Eltern wohnen.

Czeslicks sind auch hier in unserer Nähe untergebracht und kommen uns viel besuchen, weil sie zum Heizen keine Brennstoffe bekommen. Uns geben die Eltern. Czeslicks wollen aber in den nächsten Tagen weiter in einen Ort bei Eschwege an der Werra. Wir hoffen ja, daß der Iwan uns nicht weiterjagen wird, aber ich bin davon nicht überzeugt. Zurzeit ist er aber noch über 100 km entfernt. Wenn aber der Kanonendonner zu hören sein wird, dann rücken auch wir weiter. Ich muß ja auch erst abwarten, was aus mir wird. Womöglich kassiert mich noch der Volkssturm trotz meiner Kriegsbeschädigung. Sollen Czeslicks man vorfahren und Quartier machen.

Es ist eine furchtbare Zeit, in der wir leben. Wir wollen aber nicht den Kopf hängen lassen und die Hoffnung haben, daß uns trotz allem doch eines Tages der Sieg beschert sein wird. Dann wollen wir uns wieder alles aufbauen, besser und schöner. Wir wünschen nur, daß wir alle lebend den Krieg überstehen, und weil wir jung sind, wird der Aufbau für uns keine Schwierigkeiten bedeuten. Bleibe weiterhin gesund, lieber Werner, und sei gegrüßt
von Deinem Schwager Karlhans.


(Postkarte von 1914)

Die Fotos stammen von Postkarten, die 1914 geschrieben wurden. Ernst Lappöhn hat das Grundstück O. Leskien vor dem Ersten Weltkrieg (vielleicht 1909) erworben. Siehe auch Seite 8 "Großheidekrug vor 100 Jahren". S.H.


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